„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Die Scharia

Die Scharia (arabisch شريعة, DMG šarīʿa im Sinne von „gebahnter Weg“, oder „religiöses Gesetz“) ist das religiöse Gesetz des Islam.

Es existiert jedoch kein allgemein anerkanntes, kodifiziertes Gesetzeswerk, auf dem „Scharia“ steht und in dem in einzelnen Paragraphen Recht festgeschrieben ist. 

1. Für viele moderne Muslime bezeichnet „Scharia“ auch nur die islamische Glaubenspraxis, d.h. die Summe der Handlungsanweisungen, die sie individuell als gottgegeben ansehen und die zu befolgen seien, um zu Allah oder in das Paradies zu gelangen.

2. Die weniger säkulare Definition der islamischen Rechtsschulen besagt, dass es sich bei der Scharia um ein Konglomerat von Rechtsvorschriften handelt, die aus der islamischen Überlieferung von Koran und Sunna (arab. für Brauch, Sitte) verbindlich abgeleitet werden. So gesehen konstituiert die Scharia sich also durch die Auslegungen einer als göttlich betrachteten Offenbarung durch den Propheten Mohammed.

Dieser Beitrag übt eine humanistisch-aufklärerisch motivierte Kritik überwiegend an der Scharia im Begriffssinn von (2). Es soll dabei aber nicht ausgelassen werden, dass einem Humanisten bereits eine streng gelebte islamische Glaubenspraxis (1) ein Dorn im Auge ist, etwa, weil sie ein gesundes Verhältnis insbesondere zur weiblichen Sexualität erschwert.

Maledivische Bürger fordern die Einführung der Scharia.
Maledivische Bürger fordern die Einführung der Scharia.

Die Sunna gilt nach dem Koran als zweite Quelle des islamischen Rechts. Sie setzt sich aus zehntausenden von Mitteilungen zusammen (Hadithen), die nach Auffassung islamischer Rechtsgelehrter in einer ununterbrochenen Überlieferungskette direkt auf Mohammed zurückgehen. Kanonisiert und gesammelt wurden sie allerdings erst ab der Mitte des 9. Jahrhunderts. Seither liegen verschiedene Sammlungen vor, die sich sowohl in ihrer Anordnung, als auch durch die Auswahl der als „gesichert“ geltenden Hadithe unterscheiden.

Die beiden berühmtesten sunnitischen Sammlungen sind jene Ibrahim al-Bukharis (gest. 870) und Muslim ibn al-Haddschādsch (gest. 872). Daneben existieren noch vier weitere maßgebliche sunnitische und vier schiitische Sammlungen von Hadithen. Ohne hier näher auf die Authentizität der Hadithen eingehen zu wollen (vgl. Weidner 2008: 142; Selim 2006: 111-115, 127; Nagel 1994: 81-86), sei angemerkt, dass selbst unter Gläubigen bei vielen Überlieferungen Uneinigkeit darüber herrscht, ob diese tatsächlich auf den Propheten zurückgehen oder erst später hinzugefügt wurden.

Es bildeten sich in den ersten Jahrhunderten islamischer Theologie mehrere, meist geographisch deutlich voneinander getrennte, islamische Rechtsschulen aus, die in unterschiedlicher Auslegung der Überlieferung auch eine umfangreiche Rechtsliteratur schufen. In Folge dieser Aufspaltung verfügt gegenwärtig jede Rechtsschule über eine „eigene Scharia“, mit weitgehenden Überschneidungen, aber auch mit zum Teil gravierenden Unterschieden. Zunächst zeigen sich diese Unterschiede in der Art der Rechtsfindung. Die Malikiten und die Hanafiten legen beispielsweise nicht die sonst übliche strenge Analogie an, sondern vielmehr Wert auf das aktuelle Verständnis von Gerechtigkeit und den Einsatz von Vernunft. Wohingegen die Hanbaliten jede menschliche Überlegung oder Vernunft aus der Rechtsprechung verbannt haben und kategorisch nach dem Wortlaut der Überlieferung zu urteilen trachten. Durch die unterschiedlichen Arten der Rechtsfindung gelangen die einzelnen Schulen zu durchaus abweichenden Ergebnissen. Das betrifft etwa den Ritus, den Grad der Ungleichbehandlung der Frau und das „Strafrecht“. So wird beispielsweise die Anzahl der Peitschenhiebe bei Alkoholkonsum unterschiedlich hoch angesetzt. Und die Hanafiten vertreten die Ansicht, eine weibliche Apostatin, eine vom islamischen Glauben abgefallene Frau, solle nicht getötet, sondern eingesperrt und täglich gepeitscht werden bis sie sich wieder zum Islam bekenne, während die anderen drei großen sunnitischen Rechtsschulen für ihren Tod plädieren.

Die Scharia gibt in ihren Grundzügen die juristische Meinung der klassischen Rechtsgelehrten des 8. und 9. Jahrhunderts wieder. Sie folgt den politischen und sozialen Interessen dieser Zeit. Der pakistanisch-britische Reformer Ziauddin Sardar sieht eben darin den Grund dafür, dass muslimische Gesellschaften, in denen die Scharia ohne Beachtung des historischen Kontextes ihrer Formulierung angewandt wird, wie etwa in Saudi Arabien, dem Iran, dem Sudan oder dem Afghanistan der Taliban, einen mittelalterlichen Anstrich bekommen.

Nun umfasst die Scharia nicht nur Öffentliches Recht, Privatrecht und Strafrecht, also das, was in demokratischen Staaten allgemein unter Rechtsordnung verstanden wird, sondern gilt unter Muslimen als auch als ein von Gott gegebener verbindlicher Wegweiser, der den Menschen in allen Belangen leiten soll. Sie verkörpert folglich die weitestgehende Auslegung des Rechtsbegriffs. Die religiösen Regeln des Lebens des Korans und der Sunna werden nicht nur als eine Ethik verstanden, sondern als Gesetz. Die Scharia umspannt dabei alle Aspekte der religiösen, moralischen, sozialen und rechtlichen Normen und hat den Anspruch, das gesamte Leben der Gläubigen, in sämtlichen Bereichen, öffentlich und privat, bis hin zu den alltäglichsten Verrichtungen zu regeln bzw. zu diktieren. Die vorher noch nützlich erschienene Unterscheidung zwischen Scharia (1) und (2) verschwimmt bei genauerem Hinsehen also zunehmend!

Das Glaubensbekenntnis, rituelle Gebete, Fasten, Almosensteuer und Wallfahrt sind die „fünf Säulen des Islam“ – und ebenso ein Teil der Scharia, wie auch der Ehevertrag, die Anzahl der Gebetszeiten, die Gebetsrichtung gen Mekka, die Waschung vor dem Gebet,  den Ablauf, die Worte und die Sprache des Gebets. Die Scharia regelt den Umgang der Menschen untereinander, im Öffentlichen wie im Privaten, bis hin zur Sexualität. Und das alles nach Maßstäben einer jahrtausendalten Moralvorstellung, die damals schon ihrer Zeit hinterherging. Trennung und Ungleichbehandlung der Geschlechter (etwa beim Erbrecht), ein undurchdachtes und unpraktikables Zinsverbot und das Gebot zur Verschleierung der Frau – bei all diesen Forderungen können sich etwa die Salafisten völlig legitim auf die Scharia berufen. Sie verdrehen die Worte des Korans oder der Sunna nicht, wie oft behauptet wird, sondern leben vielmehr eine sehr Lesart ebendieser – die literale! Koran, Sunna und somit letztendlich die Scharia regeln Speiseverbote, Reinigungsgebote und Kleidervorschriften genauso wie Strafdelikte und alle Arten von Vertragsabschlüssen. Das Verbot für Frauen, Andersgläubige zu heiraten, findet sich, wie alle anderen unterschiedlichen Rechte für Frauen und Männer, ebenso in der Scharia geregelt, wie die unterschiedlichen Rechte für Gläubige und „Ungläubige“ (Stichwort z.B.: Strafzins).

Auch die Überlegenheit des Islam und der islamischen Gemeinschaft (Umma) gegenüber allen anderen Religionen ist in der Scharia festgeschrieben und wurde von der Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) in die Kairoer Erklärung der Menschenrechte von 1990 übernommen, in der es heißt, der Umma komme es zu, die ganze „verwirrte Menschheit“ im Einklang mit der Scharia zu führen (sic!). Die grundlegenden Rechte und Freiheiten des Menschen seien verbindliche Gebote Gottes. Alle Rechte stehen in dieser Menschenrechtserklärung unter Scharia-Vorbehalt.

Islamisches Recht versus Modernes Recht

Wie verhält sich das Islamische Recht (Scharia) zu modernen, westlichen Rechtssystemen? Die Scharia repräsentiert ein theozentrisches Prinzip, während europäisches Recht anthropozentrisch ist. Grob gesagt regelt modernes Recht die Beziehungen der Menschen untereinander, während die Scharia daneben – oder richtiger gesagt: in erster Linie – das unterwürfige Verhältnis des Menschen zu Gott regelt.

Moderne Rechtssysteme gliedern sich in drei Kategorien:

1.    Öffentliches Recht: regelt das Verhältnis zwischen dem Staat, seinen Organen und den Bürger/innen

2.    Privatrecht: regelt die rechtlichen Beziehungen zwischen privaten Rechtssubjekten, also natürlichen und juristischen Personen

3.    Strafrecht: regelt und verbietet bestimmte Verhaltensweisen und belegt diese mit Strafen.

Zusätzlich dazu regelt die Scharia noch die komplette Kulturpraxis und das Privatleben der Gläubigen. Auf dieser Grundlage können sich Gläubige an Rechtsgelehrte ihrer Wahl wenden und um Rat bitten. Oft geht es dabei um alltägliche Probleme und Fragen, wie etwa die, wie oder ob ein vielbeschäftigter Mann seine Gebete verkürzen oder auch zusammenlegen dürfe, oder die, ob es verboten sei, ein Kind auch noch nach dem zweiten Jahr zu stillen. Die Antwort auf ihre Bitten erhalten Gläubige in Form einer Fatwa, einem Rechtsgutachten.

Ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Rechtssystemen besteht in der jeweiligen Rechtssetzung:

Modernes Recht wird durch Menschen in einem demokratischen Prozess entwickelt. Die allgemeinen Menschenrechte dienen hierbei als Grundlage, auf ihnen bauen alle modernen Rechtssysteme auf. Jedes neue Gesetz muss menschenrechtskonform sein und kann gegebenenfalls durch Verfassungsgerichte oder den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte daraufhin überprüft. 

Das Recht der Scharia gilt dahingegen als gottgebenen und darf von daher auch von keinem Menschen verändert werden. Scharia- und modernes Recht unterscheiden sich in nahezu allen Grundsatzfragen: Europäisches Recht beruht auf die Vorstellung der Würde des (einzelnen) Menschen. Bestrafung dient der Buße für die Tat, dem Schutz der Gesellschaft vor Verbrechern und Verbrecherinnen, sowie der Prävention durch Abschreckung, nicht aber der Vergeltung.

Konträr dazu basiert das Scharia-Strafrecht wesentlich auf zwei archaischen Vorstellungen:

1. Das Recht auf Vergeltung. Dieses Prinzip geht auf den älteren uns bekannten Rechtskodex der Menschheitsgeschichte zurück, den Codex Eschnunna aus dem alten Babylon und findet sich beispielsweise auch im Alten Testament (Auge um Auge, Zahn um Zahn“). Hiernach sei der oder die Geschädigte berechtigt, dem oder die Schädiger/in den gleichen Schaden zu. Der oder die Geschädigte ist berechtigt, dem Schädiger/der Schädigerin den gleichen Schaden zuzufügen, den er oder sie selbst erlitten hat, und zwar unabhängig davon, ob die Tat beabsichtigt war oder ob es sich um einen Unfall handelte. Exemplarisch hierfür ist das iranische Urteil gegen Majid Emovahedi. Dieser hatte einer jungen Frau Säure ins Gesicht geschüttet, was zu Entstellung und Erblindung führte. Ein Teheraner Gericht sprach der Frau im März 2009 das Recht zu, diese Tat zu vergelten, indem sie dem Täter ebenfalls mit Säure die Augen verätzt. Solche islamische Gerichtsurteile werden durch dutzende Koranverse unterfüttert (2,55; 2,178; 5,38; 5,45 usw.).
Anmerkung: Es bedarf wohl keiner extra Erwähnung, dass
Vergeltung das exakte Gegenteil einer vernünftigen, ethischen, friedlichen Konfliktlösung ist! Kann diese unversöhnliche Litanei an Vergeltungsaufrufen wirklich das Werk eines barmherzigen Gottes sein? Für mich hört sich das eher nach den Rechtsvorstellungen eines vor-zivilisatorischen Wüstenstammes an, der seine ungezügelte, evolutionär entstandene Vergeltungslust unsinnigerweise als "Gottes Willen" verkauft.

2. Der Erhalt der „göttlichen Ordnung“. Bei sogenannten Grenzvergehen (Hadd-Vergehen) wird nicht unbedingt ein anderer Mensch geschädigt, sondern Gott und seine Ordnung. Aufgrund dessen betrachtet man ein solches Vergehen als eine Art Grenzüberschreitung zum „göttlichen Bereich“ betrachtet, als Verletzung der Rechte Gottes. Ehebruch, Glaubensabfall (Apostasie) und Diebstahl sind solche Hadd-Vergehen, sollen also die göttliche Ordnung gefährden, während Mord und Körperverletzung als gewöhnliche Vergehen gegen den Menschen begriffen und nach dem Vergeltungsrecht geahndet werden. Die Strafe für „Grenzvergehen“ dient von ihrer grundsätzlichen theologischen Begründung her weder der Buße noch der Belehrung oder Abschreckung, sondern allein der Wiederherstellung der „göttlichen (oder kosmischen) Ordnung“. Die Beweggründe des oder der Angeklagten für die Tat, sind dabei völlig unerheblich und nicht Gegenstand der Untersuchung, denn die göttliche Ordnung gilt, unabhängig von etwaigen Beweggründen, in jedem Fall als gestört und muss daher auch unabhängig von diesen wiederhergestellt werden. Bei einem Hadd-Vergehen muss nicht einmal die im modernen Recht wesentliche Frage nach Schuld oder Unschuld eine Rolle spielen. So kommen etwa die im restlichen Teil der Welt als verstörend und zutiefst ungerecht empfundenen Verfahren und Strafen gegen vergewaltigte Frauen zustande, wie sie immer wieder aus Katar, Dubai und anderen Ländern mit Scharia-Strafrecht berichtet werden. Gemäß dieser Sicht hat sich die verurteilte Frau des „außerehelichen Geschlechtsverkehrs“ schuldig gemacht. Die verurteilte Frau hat sich nach dieser Sicht des „außerehelichen Geschlechtsverkehrs“ schuldig gemacht, gänzlich unabhängig davon, wie dieser zustande gekommen ist. Der „außereheliche Geschlechtsverkehr“ an sich stellt ein Hadd-Vergehen dar und muss in jedem Fall geahndet werden, um das von Gott gewünschte Gleichgewicht wieder herzustellen. Die Würde des einzelnen Menschen, in diesem Fall einer (vergewaltigen) Frau, spielt dabei nicht die geringste Rolle.

Vereinbarkeitsversuche

Wie sieht es mit Versuchen aus, diese scheinbar unvereinbaren Rechtssysteme ineinander zu implementieren? In verschiedenen westlichen Ländern wurden tatsächlich immer wieder die Forderung laut, Teile der Scharia in das Privat- bzw. Zivilrecht europäischer Rechtssysteme zu integrieren. Islamische Verbände treten gelegentlich mit dieser Vorstellung an die Öffentlichkeit. Aber nicht nur ein Teil der Muslime und Musliminnen kann sich mit diesem Gedanken anfreunden. Auch etliche westliche Politiker ließen damit aufhorchen, Scharia-Rechtsprechung etwa bei privatrechtlichen Streitigkeiten zulassen zu wollen. So erregte  der anglikanische Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, 2008 großes Aufsehen, als er vorschlug, Teile der Scharia-Gesetzgebung in die britische Zivilrechtsprechung aufzunehmen, da sich viele Muslime in Großbritannien nicht mit den westlichen Gesetzen identifizieren würden. Diese Begründung kommt jedoch einer Kapitulationserklärung des Rechtsstaates gleich. 

Der bayrische FDP-Landtagsabgeordnete Georg Barfuß meldete sich im Oktorber desselben Jahres mit der Forderung zu Wort: „Wo die Scharia mit dem Grundgesetz vereinbar ist, sollte sie erlaubt werden.“ Wo ist dies der Fall? Jene Teile der Scharia, die keinen Rechtsbereich im modernen Sinne berühren und nicht in die Rechte anderer eingreifen, sind in der Regel mit europäischem Recht vereinbar, wenn nicht sogar durch die in Verfassungen festgeschriebenen Menschenrechte geschützt. Das betrifft zunächst den gesamten Bereich des Ritus und der Glaubenspraxis. Wer nach der Scharia betet, fastet, spendet und pilgert, wird durch das Recht auf Religionsfreiheit in all diesen Handlungen geschützt. Wer kein Schweinefleisch essen und keinen Alkohol trinken will, braucht dies nicht zu tun und zwar – und das ist entscheidend – unabhängig davon, ob dieser Verzicht durch ein religiöses Gesetz gefordert, wegen einer politischen Einstellung für richtig gehalten oder einfach einer persönlichen Marotte wegen geübt wird. Nach der Scharia zu speisen, ist ebenso erlaubt wie vegane Ernährung. Als Ausdruck der persönlichen Lebensführung geht es weder Staat noch Gesellschaft etwas an. Es ist auch niemand gesetzlich gezwungen, einer Person des anderen Geschlechts die Hand zu geben. Er oder sie verstieße damit allenfalls gegen die Regeln der Höflichkeit einer anderen Kultur, aber niemand wird gezwungen, höflich zu sein. Kurzum:  Handlungen, die nicht ausdrücklich verboten sind, sind erlaubt, und zwar unabhängig von den Beweggründen der handelnden Person. Dem Gesetz sind die Intentionen, die zu einer erlaubten Handlung führen, vollkommen egal. Darüber hinaus existieren noch weitere aus der Scharia abgeleitete rechtlich relevante Handlungsnormen, die ebenfalls mit westlichem Recht kompatibel sind. Ein Beispiel wäre hier das Islamic Banking, das durch das Recht des freien Vertragsschlusses gedeckt ist. Zwischen zwei oder mehreren Parteien geschlossene Verträge sind gültig, wenn sie nicht gegen bestimmte Gesetze oder gegen die sogenannten guten Sitten verstoßen. Auch hier ist dem Gesetz die religiöse Begründung oder Motivation hinter den Verträgen egal, solange sie nicht gegen bestehendes Recht verstoßen.

Vollkommen anders liegen die Dinge, wenn schariarechtliche Bestimmungen unser Rechtssystems unmittelbar berühren und diesem widersprechen, etwa dort, wo sie Steinigungen, das Abhacken der Hänge oder Köpfungen für bestimmte Personengruppen fordert. Aber nicht nur dort. Die Einführung paralleler Rechtsstrukturen, also ein rechtlicher Pluralismus, würde das Fundament unseres Rechtssystems zerstören, denn sie verstieße gegen zwei Grundsätze einer demokratischen und auf den Menschenrechten basierenden Rechtsordnung: (1) In gleichen Fällen gilt gleiches Recht. (2) Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Diese beiden Grundsätze ergeben sich unmittelbar aus dem menschenrechtlichen Rahmen europäischer Rechtsordnungen, der eine Ungleichbehandlung aufgrund von Geschlecht, von ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit etc. verbietet.  

Um eine ebensolche Ungleichbehandlung würde es sich aber handeln, würden Muslime zum Beispiel im Familienrecht nach der Scharia behandelt. Vor dem Gesetz wären nicht mehr alle gleich, der rechtliche Status einer Person hinge von ihrer Religion ab. Das nennt man gemeinhin Sonderrecht. Und ein solches ist per definitionem exklusiv, unabhängig davon, ob es von den Betroffenen selbst befürwortet oder abgelehnt wird. Sonderrecht schließt aus und trennt die Gesellschaft in willkürlich definierte Bestandteile. Sonderrecht ist seinem Wesen nach kollektivistisch, es bezieht sich auf Gruppen und nicht auf den einzelnen Menschen, und kann, wie die Geschichte gezeigt hat, in extremen Fällen zur Exklusion ganzer Gruppen aus einer Gesellschaft genutzt werden oder führen.

Weiterhin stellt sich die Frage, für wen das Sonderrecht gelten soll? Für alle, oder nur für den muslimischen Teil einer Bevölkerung? Aus der eingangs getroffenen Feststellung, die Scharia könne überall dort zugelassen werden, wo sie mit den allgemeinen Menschenrechten und spezifischen Gesetzen kompatibel ist, ergibt sich:  Überall dort, wo die Scharia mit der Verfassung vereinbar ist, ist sie erlaubt, ohne dass dies besonders erwähnt oder in Gesetze gegossen werden müsste. Sollte mit dieser Forderung aber intendiert werden, schariarechtliche Bestimmungen in europäische Gesetzgebungen als Sonderrecht für Muslime aufzunehmen, wäre dies nicht ohne Verfassungsbruch möglich, widerspricht sich die Forderung also selbst.

Demgegenüber wäre es aber auch für einen gläubigen Muslim inkonsequent, den Koran für das unumstößliche und unverfehlbare Wort Gottes zu halten, dann aber nicht die Einführung der Scharia zu fordern. Denn:

"Wahrlich, die Gesetzgebung liegt bei keinem, außer Allah." (12, 40)

Ein überzeugter Anhänger des europäischen Rechtsstaates muss sich zwingend gegen, der überzeugte Muslim hingegen für die Scharia einsetzen. Hier stehen sich der Westen und die arabische Welt ein weiteres Mal unversöhnlich gegenüber. Ein Kompromiss kann nur gefunden werden, wenn westliche Staaten entweder Teile ihrer Grundüberzeugungen (Menschenrechte) über Bord werfen, oder wenn die menschenrechtsinkompatible Stellen des Koran und der Sunna durch Exegese verwässert und somit sukzessiv entschärft werden. Ich bin für die zweite Variante, auch wenn diese natürlich gegen alle Formen der intellektuellen Redlichkeit verstößt, behauptet der Koran doch selbst von sich, klar und unzweideutig formuliert zu sein.

Bildquellen: 12.

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Liste aller bisherigen Blogeinträge

Kommentare: 4
  • #4

    WissensWert (Dienstag, 03 April 2018 16:24)

    Nadeem Elyas, Gründer und von 1995 bis 2006 Vorsitzender des Zentralrates der Muslime wurde gefragt ob der säkulare Rechtsstaat die unumstößliche Grundlage sei. Seine Antwort: "Ja, solange Muslime in der Minderheit sind". FAZ 1.2.2005

  • #3

    WissensWert (Montag, 12 März 2018 03:12)

    http://www.ardmediathek.de/tv/Tele-Akademie/Sascha-Adamek-Scharia-Kapitalismus/SWR-Fernsehen/Video?bcastId=37622032&documentId=50699246

  • #2

    WissensWert (Dienstag, 13 Juni 2017 14:30)

    Wobei man ehrlicherweise sagen muss, dass solche Fragen zu konkreten Aspekten der Scharia-Praxis im Religionsmonitor überhaupt nicht gestellt wurden.

    Das Merkmal "Bekenntnis zur Demokratie" ist leider kein sinnvoller Surrogatparameter für das Merkmal "Ablehnung inhumaner Scharia-Praktiken".

    Hunderte Millionen Muslime befürworten beides: Demokratie - und inhumane Scharia-Praxis.

    Tunesien:
    Bekenntnis zur Demokratie: 56 %
    Scharia sollte offizielles Gesetz sein: 56 %
    von den Scharia-Befüwortern: Amputationen sollen als Strafe für Diebstahl eingeführt werden: 44%
    von den Scharia-Befüwortern: Ehebrecherinnen sollen gesteinigt werden: 44 %

    Indonesien:
    Bekenntnis zur Demokratie: 61 %
    Scharia sollte offizielles Gesetz sein: 72 %
    von den Scharia-Befüwortern: Amputationen sollen als Strafe für Diebstahl eingeführt werden: 45 %
    von den Scharia-Befüwortern: Ehebrecherinnen sollen gesteinigt werden: 48 %

    Malysia:
    Bekenntnis zur Demokratie: 67%
    Scharia sollte offizielles Gesetz sein: 86 %
    von den Scharia-Befüwortern: Amputationen sollen als Strafe für Diebstahl eingeführt werden: 66%
    von den Scharia-Befüwortern: Apostaten sollen getötet werden: 62 %

    Ägypten:
    Bekenntnis zur Demokratie: 55%
    Scharia sollte offizielles Gesetz sein: 74 %
    von den Scharia-Befüwortern: Amputationen sollen als Strafe für Diebstahl eingeführt werden: 70 %
    von den Scharia-Befüwortern: Ehebrecherinnen sollen gesteinigt werden: 81 %
    von den Scharia-Befüwortern: Apostaten sollen getötet werden: 86 %

    Irak:
    Bekenntnis zur Demokratie: 54%
    Scharia sollte offizielles Gesetz sein: 91 %
    von den Scharia-Befüwortern: Amputationen sollen als Strafe für Diebstahl eingeführt werden: 56 %
    von den Scharia-Befüwortern: Ehebrecherinnen sollen gesteinigt werden: 58 %
    von den Scharia-Befüwortern: Apostaten sollen getötet werden: 42 %

    Das Merkmal "Wertschätzung der Demokratie" erlaubt keine Rückschlüsse auf das Merkmal "Ablehnung inhumaner Scharia-Praktiken". Man müsste explizit nachfragen. Hunderte Millionen Muslime bekennen sich zur Demokratie - und zu inhumanen Scharia-Praktiken.

    Daten:
    Bekenntnis zur Demokratie (Pew 2013):
    http://www.pewforum.org/2013/04/30/the-worlds-muslims-religion-politics-society-religion-and-politics/

    Haltung zu konkreten Scharia-Praktiken (Pew 2013):
    http://www.pewforum.org/2013/04/30/the-worlds-muslims-religion-politics-society-beliefs-about-sharia/

  • #1

    WissensWert (Freitag, 12 Mai 2017 03:00)

    "Von Land zu Land werden diese Vorschriften unterschiedlich gehandhabt. Manea ließ jedoch keinen Zweifel daran, dass sie in der europäischen Praxis zur Anwendung kommen. Enerviert beklagte sie die Diskurshoheit eines wohlgesinnten, postmodern gefärbten Liberalismus, der unter dem Banner des Minderheitenschutzes ausgerechnet ein archaisches islamisches Recht in Europa einführen wolle und die massive Diskriminierung besonders von weiblichen Muslimen in Kauf nehme. Die in diesen Kreisen mitunter vertretene Ansicht, Scharia und Grundgesetz seien mehr oder weniger das Gleiche, ist dem Umstand geschuldet, dass die Scharia, als die Gesamtheit der offenbarten göttlichen Regeln, kein fester Kodex, sondern ein vielerlei Deutung offener Korpus ist.

    Im kolonialen Selbstbehauptungskampf des neunzehnten Jahrhunderts verlor der schillernde Begriff, wie Armina Omerika ausführte, seine ethische und religiöse Dimension und bekam eine rechtliche und politische Schlagseite. Die Scharia wurde zum Symbol einer eigenen muslimischen Kultur und Sozialordnung, später zur Waffe des politischen Islams, worüber sie auch rechtlich trivialisiert wurde. Theoretisch, so meinte Omerika, könne die rechtliche Seite der Scharia, die nicht Glaubensgebote, sondern Handlungsnormen betreffe, durchaus rational und flexibel gehandhabt werden. In der Praxis geschieht mit Ausnahme des relativ gemäßigten Tunesiens regelmäßig das Gegenteil.

    Was das Scharia-Recht für Musliminnen bedeutet, lässt sich an der indonesischen Provinz Banda Aceh besehen, die das gesamte System nach islamischem Recht ausgerichtet hat: Verbot politischer Beteiligung bis hin zu Steinigung bei Ehebruch. Susanne Schröter beschrieb die Islamisierung Indonesiens exemplarisch für einen weltweit zu beobachtenden Prozess: Zunächst machten dort muslimische Intellektuelle, die einen fundamentalistisch gefärbten, oft von den Muslim-Brüdern inspirierten Islam für die einzige Zukunft des Landes hielten, Rechtsansprüche geltend, die im zweiten Schritt zur unabdingbaren religiösen Pflicht erklärt und schließlich auch für die gemäßigte Mehrheit, die man mit der Diskurskeule der Islamophobie zum Schweigen brachte, verpflichtend gemacht wurden. Mit brutalen Folgen: Übergriffe auf Intellektuelle und Minderheiten werden in Indonesien heute laut Schröter toleriert, politische Gegner juristisch folgenlos vor laufender Kamera totgeschlagen.

    Elham Manea warnte nachdrücklich, die Augen vor der politischen Dimension des islamischen Rechts zu verschließen, das in der Praxis nicht der erwünschte Integrationsfaktor, sondern ein sozialer Spaltpilz und eine Waffe beim islamistischen Umbau der Gesellschaft sei. Sichtlich erschüttert trat sie am Ende ihres Vortrags nach vorn und schloss mit einem Plädoyer für die Trennung von Religion und Staat."


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