„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Ellen Winner: Hochbegabt

Erst der Untertitel des Buchs verrät etwas mehr über den Inhalt: "Mythen und Realitäten von außergewöhnlichen Kindern". Ellen Winner ist Psychologieprofessorin in Boston. Der Textteil des Buchs ist knapp 300 Seiten lang, darauf folgen 70 Seiten Anmerkungen und ein fünfzigseitiges Literaturverzeichnis. Ein so langes Literaturverzeichnis lässt erahnen, dass sie sich erstens beruflich sehr ausführlich mit dem Thema beschäftigt hat und zweitens in ihrem Buch so ziemlich alle Aspekte davon beleuchten wird.

Begabung und Intelligenz

Der Begriff der Hochbegabung wird auch bei uns überwiegend im Zusammenhang mit einem sehr guten Abschneiden in einem Intelligenztest verwendet. Dabei müssen in begrenzter Zeit Aufgaben auf überwiegend mathematischem und sprachlichem Gebiet gelöst werden. Hinter dieser Verwendung des Worts "Begabung" verbirgt sich die Annahme, dass man damit eine allgemeine Persönlichkeitseigenschaft messen kann, die auch Aussagen über die Leistungsfähigkeit auf anderen Gebieten erlaubt und die auf verschiedenen Gebieten, also nicht nur Mathematik und Sprache, sondern auch Musik und Malerei oder Bildhauerei bei einer Person annähernd gleich entwickelt ist.

Bei niedriger Begabung mag das annähernd so sein, aber gerade bei einer besonderen Befähigung auf einem Gebiet wird die Korrelation zu den anderen Gebieten immer geringer. Ein einfaches Beispiel: Wenn jemand nicht in der Lage ist, eine Textaufgabe zu verstehen, dann wird er sie auch nicht lösen können. Ein Test seiner sprachlichen und seiner mathematischen Fähigkeiten wird also ähnlich schlecht ausfallen. Wenn der Betreffende aber in der Lage ist, den Text zu verstehen, dann hängt die weitere Bearbeitung der Aufgabe ausschließlich von seinen mathematischen Fähigkeiten ab und ist durch nichts anderes mehr begrenzt. Ellen Winner schreibt:

Es ist also wahrscheinlicher, daß man bei einer Person mit hohem IQ ein extremes Ungleichgewicht zwischen mathematischen und sprachlichen Fähigkeiten antrifft als bei einer Person mit durchschnittlichem IQ. Eine neuere Studie ergab große Diskrepanzen zwischen dem verbalen IQ und dem Handlungs-IQ bei Kindern mit einem IQ von 120 oder mehr. Die größere Ausgewogenheit bei einem niedrigeren IQ könnte darauf zurückzuführen sein, daß ein Defizit bei einem entscheidenden kognitiven Prozeß allen Subfähigkeiten eine bestimmte Grenze setzt.

Wie wir gesehen haben, weisen intellektuell hochbegabte Kinder häufig ungleichmäßige Profile auf, mit wesentlich höheren Fähigkeiten im sprachlichen als im mathematischen Bereich oder umgekehrt. Dieses Ungleichgewicht kann den gemessenen Gesamt-IQ senken. Deshalb bleibt eine hohe Begabung auf einem spezifischen Gebiet möglicherweise unentdeckt, wenn man nur auf den Gesamt-IQ achtet.

Große Begabungen in bildender Kunst oder Musik würden ebenfalls unbemerkt bleiben, wenn man sie durch einen IQ-Test ermitteln wollte… Aber Kinder mit künstlerischen Begabungen zeichnen sich durch Fähigkeiten aus, die größtenteils keinen Bezug zu jenen haben, die durch IQ-Tests gemessen werden. Sogar Kinder mit extremen Spitzenbegabungen in bestimmten Bereichen können von durchschnittlicher Intelligenz sein, wenn wir mit diesem Begriff die sprachlichen und mathematischen Fähigkeiten meinen, die im IQ-Test ermittelt werden.

Durch diese eigentlich fehlerhafte Verwendung des Begriffs "Hochbegabung" für gemessene hohe Werte an Intelligenz erklärt sich dann auch sehr schön die Zweckentfremdung des Worts "Intelligenz" für Begabungen auf anderen, weniger intellektuellen Gebieten.

Howard Gardner hat eine Theorie der multiplen Intelligenzen aufgestellt und unterscheidet eine sprachlich-linguistische, logisch-mathematische, musikalisch-rhythmische, bildlich-räumliche, körperlich-kinästhetische, naturalistische, interpersonale und eine intrapersonale Intelligenz. Nennt man diese Fähigkeiten nicht „Intelligenzen“, sondern „Begabungen“, die bei verschiedenen Menschen unterschiedlich stark ausgeprägt sind, und geht nicht von starren Trennungen zwischen ihnen aus, dann verschwindet das mit seiner Theorie verbundene Konfliktpotenzial ganz von selbst.

Vererbung und Umwelt

Für ein weiteres Streitthema, inwiefern Begabungen angeboren sind oder erlernt werden können, überlasse ich Ellen Winner vollständig das Wort:

Zu den Ursprüngen der Begabung gibt es im Grunde zwei diametral entgegengesetzte Mythen. Nach landläufiger, »populärpsychologischer« Auffassung ist Talent etwas durch und durch Angeborenes: Man hat es oder man hat es nicht. Die Fähigkeiten eines Mozart, Picasso, Newton oder Einstein sind so unvorstellbar für uns, daß wir diese Leute kurzerhand zu geborenen Genies erklären. Die Umwelt spielt keine besonders entscheidende Rolle, wenn Talente angeboren und größtenteils festgelegt sind.

Der Erklärungswert dieser Theorie hält sich natürlich in Grenzen, solange wir nicht angeben können, wie und warum hochbegabte Menschen von Geburt an anders sind. Psychologen stehen populärpsychologischen Weisheiten generell ablehnend gegenüber, und die landläufige Interpretation der Begabung bildet da keine Ausnahme. Die Psychologen haben jedoch ihren eigenen Mythos: Für sie ist Begabung ausschließlich ein Produkt der Umwelt. Ihrer Ansicht nach kann man auch das höchste Begabungsniveau, wie es zum Beispiel von Wunderkindern, Savants und schöpferischen Erwachsenen erreicht wird, durch ein intensives und frühzeitig einsetzendes Training hinlänglich erklären.

Natürlich führt die tägliche Arbeit an einer Fähigkeit zu Leistungsverbesserungen und ist erforderlich für die Entwicklung des Talents. Mit den Worten des Psychologen Howard Gruber, der kreative Erwachsene wie Charles Darwin und Jean Piaget studierte: »Übung ist nicht alles, aber ohne Übung ist alles nichts.« Das Bedürfnis, hart an etwas zu arbeiten, stundenlang zu üben und zu forschen, kommt jedoch von innen, nicht von außen. Diese intrinsische Motivation tritt normalerweise auf, wenn eine hohe angeborene Fähigkeit vorhanden ist, die auf genügend elterliche Ermutigung und Unterstützung trifft. Das leidenschaftliche Streben nach Beherrschung ist ein unabdingbarer Bestandteil jeder Begabung.

Die meisten in diesem Kapitel vorgestellten Forschungsergebnisse deuten darauf hin, daß es neurologische und genetische Unterschiede zwischen hochbegabten und durchschnittlich begabten Menschen gibt ebenso wie zwischen verschiedenen Gruppen von Hochbegabten. Ein Skeptiker wird vielleicht einwenden, daß diese Unterschiede nicht angeboren sind, sondern daraus resultieren, wie der einzelne seinen Verstand benutzt. Aber die Hinweise auf eine hirnphysiologische Grundlage der Begabung und die Nachweise für eine genetische Komponente des IQ legen die Vermutung nahe, daß alle Formen der Begabung irgendeine biologische Basis haben. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß gezielte Übung, in welchem Ausmaß auch immer, einen durchschnittlich begabten Menschen auf ein Niveau bringen wird, das Wunderkinder oder Savants so mühelos erreichen.

Insbesondere ein Ergebnis aus Studien an eineiigen Zwillingen, die nach der Geburt in unterschiedlichen Elternhäusern aufgewachsen sind, ist bemerkenswert. Obwohl bei diesen Zwillingen, bedingt durch die unterschiedlichen Bedingungen, unter denen sie aufwuchsen, in der Kindheit unterschiedliche IQs gemessen wurden, glichen sich diese Werte im Erwachsenenalter wieder an. Das deutet erstens darauf hin, dass (Hoch)Begabungen sehr stark genetisch bestimmt sind, und zweitens, dass sich Erwachsene (Gehirne) die Umwelt schaffen, die für sie am besten ist – natürlich im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten.

Förderung von Begabungen

Ein großer Teil des Buchs ist der Diskussion über die Förderung begabter Kinder gewidmet. In den verschiedenen Begabungsgebieten ist die Situation sehr unterschiedlich. Während musikalische und sportliche Talente über die Musikschulen und Sportvereine entdeckt und gefördert werden, gibt es in der bildenden Kunst und der Bildhauerei kaum Vergleichbares. Viele Künstler äußern sich in der Rückschau eher abfällig über das, was ihnen zum Beispiel im Kunstunterricht zuteil geworden ist.

Von den Themenangeboten wäre bei den intellektuellen Talenten, also den auf mathematischem oder sprachlichem Gebiet Begabten, die Schule der richtige Ort. Bei erstem Augenschein kann einem die Forderung nach einer gezielten Unterstützung paradox erscheinen, wozu sollten Kinder, denen die Schule leicht fallen müsste, besonders unterstützt werden?

Der Bürgermeister einer Stadt, die im Begriff steht, alle Mittel für die Begabtenförderung zu streichen, wurde kürzlich mit den Worten zitiert: »Ich halte nichts von der Idee, daß es mehr und weniger begabte Kinder gibt. Ich glaube, daß alle Schüler lernen können und wollen. Wir wollen kein Sondersystem für Kinder, die für klüger gehalten werden.«

Das ist schon eine atemberaubende Dummheit, die aus diesen Worten spricht. Denn eigentlich befinden sich diese Kinder in einer ähnlichen Situation wie die lernschwachen Schüler – das Angebot der Schule, zugeschnitten auf den Durchschnitt, passt nicht zu ihren Bedürfnissen. Sie sind nicht glücklich und verdienen deshalb Unterstützung.

Die sozialen und emotionalen Probleme, mit denen hochbegabte Kinder zu kämpfen haben, werden nicht durch ihre Hochbegabung verursacht, sondern resultieren daraus, daß sie sich so stark von anderen Menschen unterscheiden. Diese Kinder nehmen Dinge anders wahr, und sie haben andere Interessen und Wertvorstellungen. Durch die Asynchronie zwischen ihrer Hochbegabung und ihrer durchschnittlichen emotionalen Entwicklung und altersentsprechenden Größe geraten sie in einen tiefgreifenden Konflikt…

Ein starkes Argument für die Begabtenerziehung ist also, daß die Schüler mit den größten intellektuellen Fähigkeiten in unserem Land die am stärksten unterforderte Gruppe sind und daß sie weit unter dem Niveau von ähnlich begabten Schülern aus anderen Ländern bleiben. Die Ergebnisse der Vergleichsstudien zeigen, daß wir alle Kinder, nicht nur die hochbegabten, vor größere Herausforderungen stellen müssen. Diese beiden Ziele stehen nicht im Widerspruch zueinander.

Allerdings hat Ellen Winner an anderer Stelle eingeräumt, dass die meisten Kinder mit einem „leicht erhöhten IQ“ kaum soziale Anpassungsschwierigkeiten haben. Ellen Winners „leicht erhöhte IQs“ sind dabei Werte zwischen 130 und 150. Diese Ansicht Ellen Winners wird auch von Detlev Rost geteilt, der die aufwändigste Studie in Deutschland dazu durchgeführt hat (Marburger Hochbegabtenprojekt).

Es gibt verschiedene Möglichkeiten der Förderung begabter Kinder in der Schule, wobei sich die jeweiligen Befürworter auch hier nicht über die beste Methode einig sind:

Befürworter der Hochbegabtenförderung sind sich uneins, ob man die Ausbildung von hochbegabten Kindern »anreichern« oder »beschleunigen« sollte. Sie streiten auch darüber, ob die Kinder in Sonderklassen mit gleichaltrigen und gleichbegabten Kindern gehen sollten oder ob sie Klassen überspringen und zusammen mit älteren Kindern unterrichtet werden sollten.

„Anreicherung“ bedeutet die Teilnahme am normalen Unterricht, der in zusätzlichen Stunden um weitere Themen, eigene Projekte und Ähnliches ergänzt wird. „Beschleunigung“ bedeutet das Überspringen von Klassenstufen. Besonders umstritten ist das Einrichten von Spezialklassen, in denen Schüler gleicher Begabungsstufen zusammengefasst werden. Gegner dieser Lösung wenden ein, dass das zum Nachteil der schwächeren Schüler sein würde, weil ihnen so von den stärkeren weniger geholfen wird. Studien zeigen nun aber das genaue Gegenteil. Die Stärkeren profitieren kaum, während die vordem Schwächeren die größten Leistungssteigerungen haben. Warum das so ist, darüber wird noch spekuliert. Der praktische Vergleich aller Möglichkeiten hat gezeigt:

Von allen Formen der Begabtenförderung hat die Akzeleration in ihren verschiedenen Formen erwiesenermaßen die positivsten Effekte, auch wenn wir wenig darüber wissen, wie es sich auswirkt, wenn ein Kind mehr als ein oder zwei Klassen überspringt. 

Aber das Überspringen von Klassen ist, zumindest in der milden Form, in vielerlei Hinsicht eine gute Methode: Man vermeidet die Vorwürfe des Elitarismus und Separatismus, die mit der Gruppierung nach Fähigkeiten verbunden sind, es kostet nichts und es ist unter Umständen die einzige Möglichkeit, wenn das hochbegabte Kind ein Einzelfall an der Schule ist.

Eine meiner Lieblingsideen wird im Buch auch diskutiert: Das Homeschooling, also das Unterrichten zu Hause. Ich stelle mir das so vor, dass sich eine Handvoll befreundeter Elternpaare zusammenfindet und beschließt, ihre Kinder gemeinsam zu Hause zu unterrichten. Zum Beispiel arbeitet jeder der Beteiligten vier Tage in seiner Firma und unterichtet am fünften Tag seine und die Kinder seiner Bekannten in den Fachgebieten, die seiner Profession am nächsten kommen.

Natürlich ist das nicht für alle Eltern möglich, aber der Haupteinwand, der mir in solchen Diskussionen regelmäßig entgegnet wird, ist der der fehlenden pädagogischen Ausbildung. Ich habe das lange Zeit nicht eingesehen, aber inzwischen verstehe ich es: Viele Kinder müssen zum Lernen motiviert werden, vor allem wenn nach festen Lehrplänen unterrichtet werden muss. Mir selbst aber schwebt vor, den Unterricht anhand der Wünsche und Fragen der Kinder zu strukturieren und diesen Prozess nur sanft anhand meiner eigenen Erfahrungen zu steuern. Ellen Winner hält allerdings wenig vom Unterrichten zu Hause:

Eine extreme Methode, die ich selbst nur für eine Notlösung halte, ist der häusliche Unterricht. In den USA werden zur Zeit etwa eine Million Kinder zu Hause unterrichtet, und die Zahl steigt weiter an. Diese Möglichkeit steht natürlich nur Eltern offen, die dazu (kognitiv, emotional und ökonomisch) in der Lage sind. Viele Wunderkinder wurden von ihren Eltern ausgebildet, und für extrem hochbegabte Kinder aus privilegierten Familien wird dies sicherlich immer eine Option bleiben. Für mich ist es deshalb nur eine Notlösung, weil die Kinder keine Erfahrungen mit Peers sammeln können.

Die meisten Kinder, die in den USA zu Hause unterrichtet werden, werden entweder aus religiösen Gründen nicht zur Schule geschickt oder weil die nächste Schule zu weit weg ist. Ellen Winner schreibt, dass sie das für keine gute Lösung hält und für das Gros auch nicht notwendig – wenn das Schulsystem für alle Kinder verbessert wird. Aber sie schildert auch den Fall eines Jungen (und seiner Schwester), der als Fünfjähriger in Mathematik den Stand eines Viertklässlers und in Anatomie die Kenntnisse eines Elftklässlers hat. Die Mutter unterrichtet die Kinder im Schnitt zweimal in der Woche drei Stunden und nimmt in dieser Zeit den Stoff einer Schulwoche durch. Den Rest der Zeit dürfen die Kinder machen was sie wollen. Manchmal wollen sie dann eben zwölf Stunden am Stück unterrichtet werden, manchmal haben sie tagelang überhaupt keine Lust. Das sind solche extremen Fälle, das man sie nicht auf andere verallgemeinern kann.

 

 

 

Das eigentlich gute Argument gegen homeschooling scheint mir folgendes: Die Schule ist auch ein sozialer Ort. Wenn hochbegabte Schüler zuhause unterrichtet werden, ist das in vielen Fällen vielleicht effektiver als herkömmliches public schooling und schützt auch vor Mobbing. Die Kinder werden aber auch in einem intellektuellen Elfenbeinturm aufwachsen und möglicherweise nie die sozialen Kompetenzen entwickeln, die sie im späteren Leben brauchen werden.

 

Winners Fazit für das amerikanische Bildungssystem, das augenscheinlich schlechter ist als unseres und das vieler anderer europäischer und asiatischer Staaten:

Wir verschwenden die wenigen Ressourcen, die für die Hochbegabtenerziehung zur Verfügung stehen, für die Förderung von leicht hochbegabten Kinder. Wir würden weit besser fahren, wenn wir das Unterrichtsniveau für alle Schüler anheben würden und unsere Ressourcen für die extrem hochbegabten Kinder verwenden, die ich in diesem Buch beschrieben habe.

Die meisten Kinder, die sich für Begabtenprogramme qualifizieren, sind leicht hochbegabt, da per definitionem nur sehr wenige Kinder extreme Hochbegabungen haben. Kinder mit leicht überdurchschnittlichen Befähigungen bräuchten keine Sonderprogramme, wenn wir höhere Anforderungen an alle Kinder stellen würden. Einige Lehrer und ganze Schulen haben das eindrucksvoll bewiesen. Wenn Lehrer zum Beispiel Unterrichtsmaterialien, die für Begabtenprogramme konzipiert sind, in einer regulären Klasse anwenden, blühen alle Schüler auf. Ich habe das selbst erlebt, als die Lehrerin meines Sohnes mit ihren Viert- und Fünftkläßlern Macbeth aufführte, und dazu eine Fassung verwendete, die aus dem California Gifted and Talented Education Program stammte. Alle Schüler bekamen eine Rolle, alle lernten ihren Text im Englisch der Shakespeare-Zeit, und alle fühlten sich stark beansprucht und angeregt.

Werden begabte Kinder kreative Erwachsene?

Im letzten Teil des Buchs beschäftigt sie sich mit der Frage, wie der weitere Lebensweg der Hochbegabten verläuft und ob aus den Wunderkindern auch besonders erfolgreiche Erwachsene werden. Bereits die Studien von Terman liefern dazu eindeutige Ergebnisse. Terman hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Probandengruppe Hochbegabter aus einer großen Zahl von amerikanischen Schülern herausgesucht und deren weiteren Lebensweg verfolgt:

Die Terman-Studie zeigt, daß ein hoher IQ in der Kindheit im typischen Fall zum Erfolg, vielleicht sogar in einigen Fällen zum Expertentum führt, aber nicht notwendigerweise zu nennenswerten kreativen Leistungen. Die »Termiten« wuchsen im großen und ganzen zu gesunden, stabilen und glücklichen Erwachsenen heran. Die meisten wurden angesehene Akademiker – Ärzte, Rechts-anwälte, Professoren, Ingenieure und Geschäftsleute. Dieses Ergebnis hätte man genausogut aufgrund ihrer Herkunft aus gebildeten Mittelschichtsfamilien voraussagen können wie aufgrund ihres hohen IQ.

Keines der Terman-Kinder entpuppte sich als kreatives Genie. Zwei künftige Nobelpreisträger, William Schockley, der das Transistorradio erfand, und Luis Alvarez, der Entdecker der Elementarteilchenresonanz, wurden als Kinder sogar aus der Studie ausgeschlossen, weil sie beim IQ-Test zu schlecht abgeschnitten hatten! Als die Terman-Probanden gefragt wurden, was für sie das Wichtigste im Leben sei, nannten sie Familie, Freunde, staatsbürgerliche Pflichten und moralische Werte – genau die Dinge, die schöpferische Menschen für ihre Arbeit opfern.

Terman rechnete damit, daß seine Probanden große kreative Leistungen vollbringen würden, aber er mußte feststellen, daß die Kreativität noch von anderen Faktoren als einem hohen IQ abhängt. Wie wir noch sehen werden, spielen die richtige Persönlichkeit und Motivation eine größere Rolle als der »richtige« IQ-Wert. Außerdem deuten zahlreiche Indizien darauf hin, daß kreative Erwachsene in der Kindheit starkem Streß ausgesetzt waren. Die meisten Termiten standen in ihrem Leben offenbar nicht unter starker Anspannung oder Belastung. Bei den am besten angepaßten und beliebtesten Kindern in Termans Studie war die Wahrscheinlichkeit, daß sie ihre intellektuellen Fähigkeiten als Erwachsene bewahrten, geringer als bei den weniger Beliebten. Möglicherweise ist eine zu starke Anpassung der Kreativität abträglich.

Ellen Winner unterscheidet zwischen einer „kleinen“ und einer „großen“ Kreativität. Die kleine Kreativität können bereits Kinder zeigen, in dem sie für Aufgaben Lösungen finden, die man von ihnen nicht erwartet hätte und die weit über ihrem Altersdurchschnitt liegen. Große Kreativität aber bedeutet, dass man nicht bloß über ein außergewöhnliches Talent verfügen, sondern sich auch so lange mit der eigenen Domäne beschäftigt haben muss, dass man sie entscheidend prägen und ändern kann.

Bei denen, die den Sprung zum schöpferischen Erwachsenen schaffen, erweisen sich bestimmte Persönlichkeitsmerkmale als wesentlich wichtiger als ein hoher allgemeiner IQ oder eine hohe und sogar überragende domänenspezifische Befähigung. Kennzeichend für die kreative Persönlichkeit sind Energie, Konzentrationsfähigkeit, souveränes Auftreten, Unabhängigkeit und Risikobereitschaft. Kreative Menschen haben in der Kindheit unter starkem Streß gestanden und leiden häufig unter psychischen Erkrankungen. Dieses Bild der schöpferischen Persönlichkeit deutet darauf hin, daß außergewöhnlich befähigte Kinder, bei denen nicht mindestens einer dieser Faktoren vorhanden ist, wenig Aussicht haben, im Erwachsenenleben große kreative Leistungen zu erbringen.

Das Paradoxe daran ist, dass die geforderte optimale Förderung der besonders Begabten in ihrer Jugend dazu führt, dass sie sich nicht zu solchen Menschheitsgenies entwickeln können, weil sie dafür nicht genügend Stress ausgesetzt sind. Ellen Winner hat ein paar der heute noch lebenden „Termiten“ besucht, deren mittlere IQs bei etwa 150 lagen:

Die verblüffende geistige Energie, die ich bei Beulah Farris und Russell Robinson erlebte, war typisch für alle Terman-Probanden in diesem Alter. Verglichen mit durchschnittlichen Senioren verbringen die Terman-Probanden wesentlich mehr Zeit mit Lesen, Reisen, körperlichen Aktivitäten und ehrenamtlichen Tätigkeiten. Aber obwohl die Probanden ihr ganzes Leben lang einen hohen Energielevel bewahrten, entwickelten sich die meisten nicht zu besonders kreativen oder herausragenden Persönlichkeiten.

Die Terman-Studie zeigt, daß ein hoher IQ in der Kindheit im typischen Fall zum Erfolg, vielleicht sogar in einigen Fällen zum Expertentum führt, aber nicht notwendigerweise zu nennenswerten kreativen Leistungen. Die »Termiten« wuchsen im großen und ganzen zu gesunden, stabilen und glücklichen Erwachsenen heran. Die meisten wurden angesehene Akademiker – Ärzte, Rechts-anwälte, Professoren, Ingenieure und Geschäftsleute. Dieses Ergebnis hätte man genausogut aufgrund ihrer Herkunft aus gebildeten Mittelschichtsfamilien voraussagen können wie aufgrund ihres hohen IQ.

Tja, es wäre schon nicht schlecht, wenn dieses Paradoxon irgendwie aufgelöst werden könnte, aber wie? jedenfalls ist Ellen Winners Buch das bisher beste und umfassendste, das ich zu diesem Thema gelesen habe.

Gastbeitrag von: Dr. Ralf Poschmann (leicht abgeändert)

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