„In einer Welt, die überflutet wird von belanglosen Informationen, ist Klarheit Macht.“ 

- Yuval Noah Harari

Der Sinn des Lebens

„Das letzte Wort hat der indische Weise. Hören wir, was er dem Sinnsucher zu sagen hat: „Mein lieber amerikanischer Freund, Du bist ein wunderlicher Mann. Du fliegst in Deinem großen Vogel aus Blech um die halbe Welt und kommst zu mir – alles aus freien Stücken (ich habe Dich nicht gerufen) –, störst mich in meiner Meditation und mutest mir die Mutter aller Fragen, die Große Sinnfrage, zu. Du scheinst anzunehmen, jemand könnte Dir durch eine kurze Mitteilung, gleichsam eine Sinnformel, diese Frage beantworten und den Mangel, der hinter dieser Frage steht, ein für alle Mal beheben.

Wie kommst Du darauf, dass das Wissen, das Dir fehlt, in einen Satz zu pressen ist? Du weißt zwar manches, aber Du weißt doch sehr vieles nicht, das für Dein Leben und Dein Daseinsglück wichtig ist. Ich sage Dir, warum Du eine kurze Formel willst: Weil Du es eilig hast; Du hast es immer eilig! Hast Du dich schon einmal gefragt, warum ich seit vielen Jahren in meiner Höhle sitze und meditiere?

Dein ganzes Gebaren, Dein Wunsch nach einer kurzen Formel, Deine Eile und Deine große Ungeduld, deuteten darauf hin, dass Du von mir einen Satz willst. Also habe ich Dir einen Satz gegeben: >Das Leben ist eine Quelle.< Mit dem Satz warst Du nicht zufrieden. Also habe ich Dir einen anderen Satz gegeben: >Dann ist das Leben eben keine Quelle.<

Wieder warst Du unzufrieden. Ich hätte Dir auch noch einen anderen Satz geben können. An Sätzen ist kein Mangel. Aber ich vermute, auch mit dem wärst Du nicht zufrieden gewesen. Bist schon einmal auf die Idee gekommen, dass es vielleicht gar nicht Worte sind, die Du suchst?

Nehmen wir an, ich gebe Dir einen Satz, der Dir gefällt. Was willst Du mit dem Satz machen? Willst Du ihn schlucken wie eine Pille? Dann frisst Du am besten den nächsten Glückskeks aus Deinem Fastfood-Restaurant mitsamt dem Zettel. In Deiner Heimat gibt es auch Läden, die Glückspillen verkaufen, die Du stattdessen schlucken kannst. Wahrscheinlich machst Du das schon. Ich übertreibe? Du übertreibst aber noch mehr. Der Mensch ist das Wesen, das übertreibt. Das hat einmal ein kluger Mann gesagt. Bald wird er damit berühmt werden.

Also sehen wir weiter: Wenn Du eingesehen hast, dass Dir kein kurzer Satz genügt, dann möchtest Du vielleicht ein Gewebe von Sätzen, einen Text. An Texten ist kein Mangel. Welchen Text, fragst Du? Bin ich etwa ein Bibliothekar? Aber ich kenne Eure Bücher. In meiner Jugend habe ich Sie gelesen. Sie haben jedoch Fußangeln, die bei Euch Fußnoten heißen. Wer Eure Bücher liest, muss sich ständig gleichsam bücken, um auch noch die Fußnoten zu lesen. In jeder Fußnote steht: Lies auch noch dieses Buch! Wenn Du das neue Buch aufschlägst, stößt Du auf weitere Fußnoten. In jeder steht: Lies auch noch dieses Buch! So kommt Ihr nie zum Ende.

Du sagst, Du möchtest eigentlich gar keine Sätze, sondern Gedanken. Das ist schon besser. Aber die Art, wie Du fragst „Was ist der Sinn des Lebens?“ erinnert mich an die Frage „Was ist die beste Marmelade?“, womit ja gemeint ist: „Welche Marmelade ist die beste Marmelade?“ Du scheinst zu glauben, es gebe ein überschaubares Angebot (von Sätzen, Gedanken oder was auch immer), von dem genau ein Artikel Deinen Sinnhunger – oder sollte ich sagen: Deine Sinnsucht – heilen wird. Ich sage Dir, warum Du das erwartest: In Euren Supermärkten gibt es alles, was Euer Körper braucht. Deshalb glaubt Ihr, es müsste auch ein Sortiment von Sinnangeboten geben, einen Supermarkt für die Seele. Tatsächlich arbeitet Ihr ja bereits daran: In jedem Buchladen kann man Sinnratgeber in Form von Büchern, in jedem Telefonbuch Sinnklempner in Form von Psychotherapeuten finden. Du willst den Sinn jetzt doch nicht mehr als eine Ware, als etwas, das Du kaufen kannst? Du willst nach der Antwort auf die große Sinnfrage handeln? Jetzt kommen wir der Sache schon etwas näher. Es gibt genug, was Du tun kannst. An sinnvollen Tätigkeiten ist kein Mangel. Achte und schone die Natur! Achte alle Lebewesen, achte vor allem Deine Mitmenschen! Arbeite mit anderen daran, dass unsere Lebensgrundlage erhalten bleibt!

Mit anderen daran zu wirken, dass die Lebensgrundlage von uns nicht zerstört wird, und anderen zu helfen, bessere Sinnmöglichkeiten zu haben, sind zweifellos sinnvolle Tätigkeiten, die einen Lebensabschnitt oder sogar ein ganzes Leben ausfüllen können. Ein solches Leben mag einer Suche nach dem absoluten Sinn nicht genügen; es hat aber in seiner gewichteten Summe sicher genügend Sinn. Und wenn einige der subjektiv sinnvollen Tätigkeiten, aus denen es ganz oder zum Teil besteht, zu einem guten Erfolg führen, dann hat dieses Leben auch objektiven Wert.“

- Oliver R. Scholz: Der große Sinn und das kleine Verstehen – Aufklärung, Orientierungen und Lockerungsübungen zum Sinn des Lebens

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