Gaia-Hypothese

Gaia (auch Gäa) ist eine altgriechische, mythologische Gottheit und symbolisierte die aus dem Chaos entstandene Urmutter Erde, die alles Sterbliche hervorbringt und wieder in sich aufnimmt.

Außerhalb der griechischen Mythologie hat der Name Gaia in folgenden Zeitaltern eine Bedeutung in der analytischen Psychologie von Carl Gustav Jung sowie als Namensgeberin der so genannten Gaiahypothese der Mikrobiologin Lynn Margulis und des Chemikers und Arztes James Lovelock, die diese in den 1960er Jahren entwickelten.

Bezüge wurden zu den Begriffen anderer Hypothesen der kollektiven Intelligenz, Schwarmintelligenz (nach G. Beni und J. Wang)Synergetikdes, des Globalen Bewusstseins (z.B. das parapsychologische Global Consciousness Project) und den Morphogenetische Feldern (morphisches Feld) nach Rupert Sheldrake hergestellt.

In New-Age-Kreisen fand die Gaia-Hypothese großen Zuspruch.

1. a) Gaia-Hypothese nach Margulis und Lovelock

Die Gaia-Hypothese wurde von der Mikrobiologin Lynn Margulis und dem Chemiker, Biophysiker und Mediziner James Lovelock Mitte der 1960er-Jahre entwickelt. Sie beschreibt die Erde personifizierend als einen lebenden Organismus. Die Gesamtheit aller Organismen wirke hier symbiotisch und selbstorganisierend zu einem übergeordneten Wesen zusammen. Die Erde halte demnach die Bedingungen für das Leben (z.B. die Zusammensetzung der Atmosphäre, das Klima, den Salzgehalt der Meere) günstig und stabil und reguliere sie auf diesem Niveau. Dabei geht die Gaiahypothese von einer anderen, weiter gefassten Definition für das Phänomen Leben aus als die Definition für Leben in der Biologie.

 

Lovelock distanzierte sich von einer animistischen Interpretation der Gaia-Hypothese und berief sich ausschließlich auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Auf Lovelock bezieht sich auch der Eichstätter Geograph und Kommunalberater Ralph Klemens Stappen mit seiner Terramedizin.

1. b) Global Consciousness Project

Im Rahmen eines weltweiten Experimentes namens Global Consciousness Project werden Pseudozufallszahlen von Rauschdioden statistisch ausgewertet, um ein postuliertes kollektives Bewusstseinssignal nachzuweisen. Das Projekt unter der Leitung des ehemals an der Princeton University tätigen Psychologen Roger Nelson begann 1998 und ist auch unter dem Namen ElectroGaiaGram (EGG Project) bekannt geworden.

Kritik: Die Erde ist kein Lebewesen

Die Gaia-Hypothese, der zufolge die Erde oder die Biosphäre ein Lebewesen ist, ist deshalb unhaltbar, weil (1) zu Fließgleichgewichten führende Rückkoppelungsschleifen, die von den Lebewesen ausgehen, keine hinreichende Bedingung dafür sind, die Gesamtheit der Lebewesen (oder deren Ökosystem) ein Lebewesen zu nennen, und (2) weil der Begriff der Selbstorganisation von den Befürwortern der Gaia-Hypothese in einem anderen Sinn verwendet wird, als er zur Charakterisierung von Organismen gebraucht werden kann.

Man hat mich gebeten, einen Lexikonbeitrag zur „Gaia-Hypothese“ zu schreiben, wohl deshalb, weil ich mich viel mit sogenannten Superorganismus-Theorien in der Ökologie befaßt habe. Die Gaia-Hypothese besagt, stark verkürzt, daß die Erde ein Lebewesen oder doch etwas Ähnliches sei. Die Superorganismus-Theorien in der Ökologie behaupten, daß biologische Gesellschaften (Lebensgemeinschaften, Biozönosen, ecological communities), bzw. diese als Einheit mit ihrer Umwelt betrachtet, d. h. als Ökosysteme, Organismen höherer Ordnung seien. Man kann dann diesen überorganismischen Einheiten Eigenschaften wie Gesundheit zuschreiben, da sie ja wiederum Organismen sind. Man kann, heißt das, Begriffe auf sie anwenden, die sich auf anderes als auf Organismen nicht anwenden lassen, es sei denn metaphorisch. Mit der ganzen Erde verhält es sich nach der Gaia-Hypothese ebenso; sie kann z. B. krank sein oder sie kann sich wehren.

Mit dieser Hypothese habe ich mich nie beschäftigt, anders als mit den Superorganismus-Theorien. Diese galten jahrzehntelang, bis um die Mitte des 20. Jahrhunderts, nicht nur als respektable Auffassungen, sondern hatten in den Theoriediskussionen der Ökologie klar die Vorherrschaft (in der Öko-Ideologie haben sie diese heute noch). Seitdem sind sie in den Hintergrund getreten, aber nicht verschwunden. Der Gedanke, daß interagierende Organismen wiederum Organismen, also höherer Ordnung bilden, ist sozusagen einer der Pole, die die Theoriedynamik dieser Wissenschaft von Beginn an organisieren. Die Gaia-Hypothese, die es seit etwas über 30 Jahren gibt, begegnet einem in meinem Metier zwar ständig, doch schien sie mir bereits auf den ersten Blick derart deutlich als esoterischer Unfug erkennbar, daß ich meinte, mich nicht weiter mit ihr abgeben zu müssen. Nun habe ich mich, durch jene Anfrage veranlaßt, doch ein wenig umgesehen, wenn auch bei weitem nicht gründlich genug, um zu dem Thema einen in der üblichen Weise publizierbaren Text verfassen zu können. Aber das ist ja ein Vorteil des Blogs: Man kann auch unausgegorene Gedanken zur Diskussion stellen.

„Esoterisch“ habe ich eben geschrieben. In der Tat ist diese Hypothese vor allem in Esoterikerkreisen angekommen (siehe unten die Hinweise auf Internetseiten). In der Wissenschaft dagegen hatte man fast nur Spott für sie übrig.[1] Aber die Hypothese stammt von Wissenschaftlern, und zwar vor allem von dem Chemiker James Lovelock und der Mikrobiologin Lynn Margulis. Über die Leistungen von Lovelock in seinem Fach kann ich nichts sagen, es ist mir allzu fern. Margulis ist mir allerdings als sehr verdienstvolle Wissenschaftlerin bekannt, vor allem durch ihre Arbeiten zur Endosymbiosetheorie.

 

Nun kennt man das ja: Verdienstvolle Wissenschaftler versuchen sich öfter mal auf Gebieten, die jenseits ihrer Fachgrenzen liegen. Dagegen ist nichts zu einzuwenden. Sie können sich ja in andere Fächer einarbeiten und dann zu deren Fragen etwas beitragen. Es ist in aller Regel nichts von Bedeutung, was da herauskommt, doch kann es hinreichend solide sein, um nicht verschwiegen werden zu müssen. (Eben das versuche ich in diesem Blog ja auch.) Finster pflegt es allerdings zu werden, wenn sich die Wissenschaftler nicht in andere Fächer einarbeiten, sondern von ihrem Fach aus, mit dessen auf bestimmte Gegenstände zugeschnittenen Methoden, anderswo mitzureden versuchen, ja, meist nicht nur mitzureden, sondern etwas Grundstürzendes von sich zu geben.

 

Es sind so gut wie immer Naturwissenschaftler, die so etwas tun. Geistes- und Sozialwissenschaftlern oder Philosophen kommt es kaum, wenn überhaupt jemals in den Sinn, Naturwissenschaftler auf deren Gebiet berichtigen zu wollen. Das hat unter mehreren Gründen sicher auch den, daß sie gelernt haben, daß es Fachgrenzen gibt, und zwar gerade deshalb, weil sie oft gezwungen sind, über sie hinauszugreifen. Naturwissenschaftlern dagegen passiert letzteres kaum, weshalb sie gerne die Grenzen ihres Faches – zumindest die der Naturwissenschaft insgesamt – mit den Grenzen der Wissenschaft überhaupt und die Grenzen ihres Gegenstandsbereiches mit denen der Welt verwechseln. Max Weber hat ein Buch rezensiert, in dem sich der renommierte Chemiker Wilhelm Ostwald auf sozialwissenschaftliches Terrain vorgewagt hat; er wollte die Sozialwissenschaften mittels einer „energetischen Kulturtheorie“ revolutionieren. Weber hat von „naivem Banausentum“ gesprochen und die Sache damit getroffen, sowohl mit „naiv“ als auch mit „Banausentum“. Wolf Singer und Gerhard Roth, Richard Dawkins und Edward O. Wilson konnte er noch nicht kennen.

 

Wie ist es aber im Falle der Gaia-Hypothese? Haben die genannten Autoren wirklich ihre Kompetenzen überschritten? Ihre Gedanken haben sie mit dem Anspruch einer naturwissenschaftlichen Hypothese, also als empirisch prüfbare Behauptung formuliert. Lovelock wendet sich explizit dagegen, daß die Behauptung, die Erde oder zumindest die Biosphäre sei ein Lebewesen – was ihm allerdings manchmal auch als eine zu starke Formulierung vorkommt, dann ist sie nur noch ein System, das irgendwie einem Lebewesen gleicht –, impliziere, sie habe eine Seele. Da sieht er offenbar die Grenzen dessen überschritten, was einer Naturwissenschaft möglich ist. – Sicher hat er aber innerhalb der Naturwissenschaft die Grenzen seines Faches überschritten. Ein Chemiker ist hinsichtlich der Frage, was ein Lebewesen ausmacht, nicht weniger Laie als ein Archäologe oder ein Starkstromingenieur oder ein Tischler. Bei Margulis aber ist es, so scheint es zumindest, anders. Kein empirisches Forschungsgebiet hat vielleicht mit dieser Frage engere Berührung als ihres. Die Endosymbiosetheorie behauptet, daß manche oder viele Organellen der Eukaryonten ursprünglich selbständige Organismen waren (Chloroplasten z. B. seien freilebende Cyanobakterien gewesen). Das berührt den Kern der Frage, was ein Organismus ist und was insbesondere ein Organismus als ein Individuum ist. Und wenn sich die Theorien darüber, was das Wesen von Lebewesen ist – es sind philosophische Theorien und sie müssen das sein, nicht biologische – von einer biologischen Theorie überhaupt irritieren lassen müssen, dann, außer von der Darwin’schen, von dieser. – Soweit ich die Sache überblicke, kann man heute getrost sagen, daß die Endosymbiosetheorie nicht einfach eine unter mehreren ist und umstritten wie alle, sondern zutrifft.[2]

 

Ich will eine Anmerkung dazu machen, ob die Gaia-Hypothese in ihren naturwissenschaftlichen Aussagen haltbar ist. Die Frage, ob bzw. inwieweit man insgesamt überhaupt von einer naturwissenschaftlichen Hypothese sprechen kann und damit, ob die Autoren vielleicht Grenzen, die ihnen als Naturwissenschaftler gesetzt sind, überschritten haben, übergehe ich.

Die Befürworter der Gaia-Hypothese führen als empirische Belege an, daß Lebewesen eine große Wirkung auf die abiotische Umwelt im globalen Maßstab haben, daß es insbesondere von Lebewesen ausgehende negative Rückkoppelungsprozesse gibt, die zur Entstehung von Gleichgewichtszuständen in ihrer Umwelt führen. Sie sprechen in einer weithin üblichen, aber doch grob irreführenden Weise – ich komme darauf noch zu sprechen – von „Homöostase“. Beispiele sind der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre, die Temperatur der Erde und der Salzgehalt des Ozeanwassers. Sie würden, und das ist nun der entscheidende Punkt, durch die Aktivität der Lebewesen stabilisiert, und zwar bei Werten, die den Lebewesen in ihrer Gesamtheit, „dem Leben“, günstig sind. Dies aber geschehe deshalb, weilsie günstig sind.

Es gibt, nicht unerwartet, unter Naturwissenschaftlern den einen oder anderen, der mit der Gaia-Hypothese sympathisiert und sogar meint, sie sei dabei, in den Geowissenschaften zu einem „Paradigmenwechsel“ zu führen. Der Astronom Willerding (2004) z. B. schreibt: „Erstmals unterstützte nun auch die etablierte Geowissenschaft die Vorstellung, dass wohl tatsächlich auch die Lebenswelt des Planeten entscheidenden Einfluss auf bestimmte Aspekte der abiotischen Welt haben mußte ... Eine solche aktive Beteiligung des Lebens galt noch vor 30 Jahren als Widerspruch gegen alle gängigen Vorstellungen. Inzwischen jedoch hat die Biosphäre als zentraler Bestandteil des Systems Erde – neben Lithosphäre, Hydrosphäre und Atmosphäre – längst ihren festen Platz im neuen Weltbild der Geowissenschaften gefunden – nicht zuletzt dank der Debatten um Lovelock und seiner Gaia-Hypothese.“ Das ist in völlig falsch. Man weiß schon seit langem, woher der Sauerstoff der Atmosphäre kommt. Man weiß auch, daß ein Großteil der Gesteine der Erdoberfläche biogenen Ursprungs ist in dem Sinne, daß ihre Bestandteile einst – oft mehrmals – Bestandteile der Körper von Lebewesen waren (das gilt nicht nur für den Korallenkalk und andere Sedimentgesteine, sondern auch für viele metamorphe Gesteine). Und man weiß auch, daß das Klima in hohem Maße von der Pflanzenbedeckung abhängt. Zu diesen Erkenntnissen und zu ihrer Akzeptanz in der Wissenschaftlergemeinde hat die Gaia-Hypothese gar nichts beigetragen, sie hat sie vielmehr vorgefunden und in ihrem Sinne interpretiert.

Sie hat solche Wirkungen der Lebewesen als Prozesse mit negativen Rückkoppelungen interpretiert, mithin als Prozesse, die zu Gleichgewichten führen. Auch das ist – und war dies schon lange vor der Gaia-Hypothese – völlig unbestritten, und auch daß es das in großem Umfang gibt, ist unbestritten. Die Gaia-Hypothese aber behauptet, wie angedeutet, mehr als nur auf diese Weise zustande kommende Gleichgewichte: Die Lebewesen (alle? einige? sie alle als systemare Einheit?) machen dadurch die Umwelt besser geeignet für „das Leben“, und zwar so, daß eben diese bessere Eignung die Erklärung dafür liefert, daß diese Prozesse ablaufen.

Das Denkmuster ist in der Ökologie bekannt (auch wenn es wohl den Erfindern und Befürwortern der Gaia-Hypothese gar nicht daher bekannt ist, sondern ihnen als ein mögliches Grundmuster abendländischer Welterklärung selbstverständlich ist[3]): In den Superorganismus-Theorien erzeugt z. B. ein Wald genau das Mikroklima und den Boden, den eben dieser Wald, mit all den für ihn charakteristischen Arten, braucht. Aber die Kritik liegt auf der Hand, und deshalb hält man in der Ökologie von solchen Deutungen auch kaum mehr etwas: Der Baumbestand erzeugt[4] in der Tat ein bestimmtes Mikroklima und einen bestimmten Boden. Und dann siedeln sich eben die Arten hier an, die zufällig auf die jeweiligen Flächen gelangen und diese Bedingungen brauchen oder ertragen. Das wird in den Superorganismus-Theorien holistisch-teleologisch uminterpretiert: Der Wald als Ganzheitschafft die Bedingungen für sich, wie ein Organismus, der, etwa durch den Bau einer Höhle, eine für sich selbst geeignete Umwelt erzeugt. So wird der Wald zum Überorganismus, worin die Einzelorganismen Organe oder Teile von Organen sind.

Aber die Lebewesen erzeugen in Wirklichkeit nicht nur solche Umweltbedingungen, die ihnen selbstgünstig sind, und es sind nicht nur negative Rückkoppelungsschleifen, die von ihnen ausgehen. Ein Birkenwald – so ein klassisches Beispiel – erzeugt am Waldboden Lichtverhältnisse, das ihm selbst die Existenz unmöglich macht. Die Birken werden folglich von Bäumen anderer Arten verdrängt. James Kirchner hat explizit auf die Gaia-Hypothese bezogen ausgeführt, daß auch auf globaler Ebene solche für ihre Erzeuger negativen und (damit) destabilisierenden biotischen Wirkungen häufig vorkommen. Daß die durch die Gesamtheit der Lebewesen geschaffenen Umweltbedingungen für die jeweils zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort existierenden Lebewesen im allgemeinen günstig sind, hat einen anderen, sehr einfachen Grund: Evolutionär entstehen und halten sich vor allem solche Lebewesen, die unter eben den Umweltbedingungen lebensfähig sind, die von anderen, nämlich für die vor ihnen lebenden Lebewesen, von denen sie abstammen, günstig waren (und teils von ihnen geschaffen worden sind). Heutige Blütenpflanzen oder Vögel haben nicht Nachkommen, die die sauerstofffreie Atmosphäre früher Erdzeitalter benötigen, sondern solche Nachkommen, die die heutige Atmosphäre brauchen. Nachkommen von Lebewesen extrem salzhaltiger Gewässer gleichen weitgehend ihren Eltern und haben weitgehend deren Umweltansprüche, und sie werden in extrem salzhaltigen Gewässern geboren und nicht im Süßwasser oder im Bergwald. Bei mobilen Lebewesen ist der Grund der, daß sie „wandern“ und sich dann da ansiedeln, wo die für sie geeigneten ökologischen Bedingungen vorliegen.

 

Aber wenn auch, wie eben gesehen, das biogene Zustandekommen günstiger Umweltbedingungen für die jeweils vorkommenden Lebewesen sich ganz anders erklärt als die Gaia-Hypothese behauptet: Die Lebewesen haben zum Teil tatsächlich Wirkungen auf ihre Umwelt, die näherungsweise zu relativ langandauernden dynamischen Gleichgewichten führen, und dies auch in globalen Dimensionen. Der entscheidende Punkt ist nur: Das ergibt nicht den mindesten Grund, die Erde oder den von der Biosphäre „durchdrungenen“ Teil von ihr ein Lebewesen (höherer Ordnung) zu nennen. Daß die Befürworter der Gaia-Hypothese das meinen tun zu dürfen, liegt an einem falschen Verständnis dessen, was zwei Begriffe, nämlich Gleichgewicht und Selbstorganisation, bezogen auf Lebewesen bedeuten. Die für Lebewesen spezifische Art von Gleichgewicht ist etwas ganz anderes als das, was man in der Gaia-Hypothese dynamische Gleichgewichte nennt. Ebenso besteht zwischen dem, was man im Falle von Lebewesen meint, wenn man von Selbstorganisation spricht und damit ein Charakteristikum von Lebewesen benennen möchte, und dem, was man im Rahmen der Gaia-Hypothese mit diesem Begriff meint, ein fundamentaler Unterschied.

Zunächst zum Gleichgewicht. Man muß unterscheiden zwischen äußeren Gleichgewichten und dem inneren oder organischen Gleichgewicht.[5]

Nun hat man Lebewesen als offene Systeme im Fließgleichgewicht aufzufassen versucht. Ludwig von Bertalanffy hat gegen die Vitalisten diesen Begriff eingeführt, um darzutun, daß man keineswegs eine übernatürliche „Lebenskraft“ annehmen muß, wenn man die Lebenserscheinungen erklären will (Bertalanffy 1929, s. auch Voigt 2001). Lebewesen seien eine bestimmte Art von Systemen, nämlich eben offene Systeme im Fließgleichgewicht. Doch auch viele nicht-lebende offene Systeme kennen einen Zustand des Fließgleichgewichts, und selbst wenn sie sich nicht immer in diesem Zustand befinden, so „streben“ sie ihn doch an. Die von der Physik normalerweise behandelten Systeme – nämlich geschlossene oder als geschlossen behandelte Systeme – sind nach Bertalanffy ein Sonderfall. Systeme sind primär offen, und Organismen sind der Modellfall, aber nicht der einzige Fall offener Systeme.

Damit reicht aber – und das übersehen die Anhänger der Gaia-Hypothese – der Begriff der offenen Systeme im Fließgleichgewicht nicht aus, um das Wesentliche an Lebewesen zu beschreiben: Fließgleichgewichte kommen ja nicht nur bei Lebewesen vor. Wenn man offene Systeme im Fließgleichgewicht findet, ist das darum für die Frage, ob es sich bei dem Gegenstand, an dem man sie findet, um ein Lebewesen handelt, ohne Bedeutung.

Was ist nun der Unterschied zwischen Fließgleichgewichten, wie wir sie auch in der nichtlebenden Natur finden, und solchen Gleichgewichten („organischen“), die für Lebewesen spezifisch sind? Einige Beispiele für erstere:

Unter Geomorphologen ist es üblich, von Flüssen so zu sprechen, als ob sie Lebewesen wären. Sie sprechen z. B. davon, daß ein Fluß „bestrebt“ ist, seine „Schleppkraft“ auszunutzen, weshalb er dann, wenn diese so groß ist, daß er mehr an Gestein mit sich führen könnte als er mit sich führt, den Gewässerboden angreift. Unter Gleichgewichtsbedingungen aber bleibt der Gewässerboden in gleicher Höhe. Dieses Gleichgewicht strebt er an. Wenn die Geomorphologen nachdenken, wird ihnen bewußt, daß diese Art zu reden nur metaphorisch ist. Denn tatsächlich ist der Fluß natürlich kein Lebewesen, das sich selbst oder etwas an sich selbst trotz Veränderung äußerer Einwirkungen gleichzuhalten trachtet, sondern es handelt sich um ein einfaches Fließgleichgewicht: Es wird eben gerade so viel abgelagert wie abgetragen. Die Redeweise, daß der Fluß etwas anstrebt, ist ebenso metaphorisch wie die, daß ein Pendel nach Auslenkung wieder zum tiefsten Punkt zurückstrebt. Es liegt nur, aus welchen Gründen auch immer, näher, einen Fluß zu „personifizieren“ und die anthropomorphe Redeweise nicht gleich zu bemerken, als dies bei einen Pendel zu tun.

Fließgleichgewichte dieser „äußeren“ Art sind nicht nur in der unbelebten Natur, sondern auch da allgegenwärtig, wo Lebewesen beteiligt sind, ohne daß doch dadurch der betreffende Gegenstand zu einem Lebewesen würde: im Bereich der Beziehungen zwischen Organismen und der Einheiten, die aufgrund dieser Beziehungen entstehen („Gesellschaften“, "Ökosysteme", „Populationen“). Eine Population wächst, für das einzelne Individuum werden im Zuge der Dichtezunahme die Ressourcen knapp, darum geht die Geburtenrate zurück und die Sterberate steigt, bis schließlich beide gleich sind, so daß ein Gleichgewichtspunkt erreicht ist. Um den pendelt die Populationsdichte: Sowie sie von ihm nach oben oder unten abweicht, „strebt“ sie wieder zu ihm zurück. Ein anderes Beispiel: Wenn auf einer Fläche ein neuer Pflanzenbestand entsteht, dann wird dessen Biomasse zunächst zunehmen. Kommen nun Herbivore und fressen genauso viel weg wie jeweils nachwächst, bleibt sie im Gleichgewicht. Auch dieses Fließgleichgewicht ist ein äußeres und hat nichts damit zu tun, daß hier der Pflanzenbestand bestrebt ist, sich zu erhalten. Er ist kein Lebewesen.

Durch Fließgleichgewichte allein wird ein System also nicht zu einem lebenden. Will man das für Lebewesen Spezifische mit einem Gleichgewichtsbegriff erfassen, dann bräuchte man einen anderen. Er müßte jenen Aspekt der Regulation an Organismen treffen, der darin besteht, daß sie bei Veränderung an ihnen selbst oder in ihrer Umwelt „aktiv“ Zustände beibehalten oder zu ihnen zurückkehren, die es ihnen erlauben, weiterzuexistieren. Es können Zustände ihrer selbst sein oder in ihrer Umwelt. Letzteres kann z. B. dadurch bewirkt werden, daß mobile Lebewesen bei Ungünstigwerden der Umweltbedingungen den Ort wechseln, ersteres darin, daß sie Wasser aufnehmen, wenn ihr Wassergehalt unter bestimmte Werte sinkt. Mit dem Begriff des Fließgleichgewichts allein kann man gewiß bestimmte Aspekte beschreiben, die dabei eine Rolle spielen, z. B. das Gleichbleiben der Stoffmenge im Körper bei fortwährendem Hinein- und Hinausströmen von Stoffen. Aber man kann z. B. nicht damit beschreiben, daß das Lebewesen ein bestimmtes Verhalten zeigt, um an diese Stoffe, etwa Wasser, zu kommen; auch nicht beispielsweise, daß ein Organismus Organe, die ausfallen, erneut bildet oder in ihrer Funktion durch andere ersetzt. Das, was der Organismus an sich selbst und manchmal auch in seiner Umwelt vornimmt, um sich in einem bestimmten Zustand (d. h. „am Leben“) zu erhalten, hat also einen anderen Charakter als das Hinstreben zu einem bzw. das Oszillieren um einen bestimmten gleichbleibenden Wert, wie es am Beispiel des Gleichbleibens der Populationsgrößte infolge gleicher Größe von Geburten- und Sterberate oder am Beispiel des Verbleibens des Bodens eines Fließgewässers in gleicher Höhe angedeutet wurde – auch wenn solche Fließgleichgewichte dabei eine Rolle spielen.

Beim Fließgleichgewicht bleibt eine Quantität – die Menge des Inhalts im „Behälter“, z. B. die Populationgröße – bestehen, weil die verändernde Wirkung des "Zuflusses" durch eine gleich große entgegengesetzte Wirkung, die des "Abflusses", aufgehoben wird. Beim Zu- und Abfluß kann die Menge desselben sich Ereignissen verdanken, die ganz unabhängig sind von dem sich im Gleichgewicht befindlichen Objekt (bei einer Population von der Dichte der Prädatoren, die ihrerseits z. B. entscheidend von den Temperaturen abhängt und nicht – auch wenn dies ebenfalls vorkommt[6] – von der Dichte der Beutepopulation).

Dagegen besteht das organische Gleichgewicht – und nur auf diese Art von Gleichgewichten kann man mit Fug und Recht den Begriff „Homöostase“ anwenden – darin, daß trotz qualitativer und quantitativer Veränderungen im Organismus und in der Umwelt eine bestimmte Organisation des Organismus als eines Ganzen aufrechterhalten wird (vgl. Weil 1999). Auch wenn manches an dieser Aufrechterhaltung als Fließgleichgewicht beschrieben werden kann, ist der entscheidende, nur für Organismen charakteristische Aspekt mit diesem Begriff nicht erfaßt: Veränderungen einiger der Komponenten des Organismus (oder seiner Umwelt), die für sich betrachtet seine Funktionsfähigkeit (die er für sich selbst hat) aufheben würden, werden durch Veränderungen anderer Komponenten (und nicht etwa zufällig durch äußere Ereignisse) derart kompensiert, daß der Organismus als funktionsfähige Ganzheit erhalten bleibt. Und um erklären zu können, warum jene Veränderungen anderer Komponenten so vonstatten gehen wie sie es tun, ist es nötig zu wissen, was den Organismus als funktionsfähige Ganzheit ausmacht.

Zur Illustration ein bekanntes Beispiel eines Fließgleichgewichts, in welchem die Veränderungen und die Tendenz zum Gleichgewicht ihre Ursachen im System haben und das doch kein organisches ist: Die Geburtenrate in einer Beutepopulation steigt, das führt zu höherer Dichte einer Räuberpopulation, dies wiederum zum Sinken der Geburtenrate der Beutepopulation, worauf wiederum die Räuberpopulation zunimmt usw.; es kommt zu einem Oszillieren um einen Gleichgewichtwert. Die Einflüsse von außen ändern sich nicht, aber wenn sie sich ändern, bleibt der Gleichgewichtspunkt nicht bei diesem Wert. Wenn sie sich ändern, etwa die Temperaturen steigen, wird sich z. B. die Geburtenrate der Beute erhöhen und der Gleichgewichtwert wird woanders liegen. Steigen aber die Außentemperaturen in der Umgebung eines „Warmblütlers“, so „unternimmt“ der Organismus etwas, „damit“ die Temperaturen in seinem Inneren gleich bleiben. Denn deren Verbleiben in einem bestimmten, engen Bereich ist Bedingung dafür, daß der Organismus weiterhin leben kann (wozu unter anderem gehört, daß viele andere Fließgleichgewichte erhalten bleiben). Wo man zu recht von Überorganismen sprechen kann, verhält es sich entsprechend, z. B. im Falle des aktiven Haltens der Temperatur bei bestimmten Werten in einem Bienenstock.

Der Begriff des organischen Gleichgewichts bezieht sich also  darauf, daß trotz Veränderungen (quantitativer wie qualitativer) im Organismus oder in seiner Umwelt die Selbstproduktion des Netzwerks der Teile durch aktive Regulation aufrechterhalten wird. Was gleich bleibt, ist die Existenz des Ganzen als eine organisierte Ganzheit, und die Organisation ist auf die Erhaltung dieser Existenz gerichtet. Die Struktur kann gleich bleiben, und der Organismus gleicht dann nur durch Veränderung von Prozessen auf Grundlage dieser Struktur die Folgen von Umweltveränderungen oder auch von dysfunktionalen internen Veränderungen aus. Die Struktur kann sich auch ändern; das reicht von ad-hoc-Änderungen wie dem Einkapseln bei Austrocknung der Umgebung bis zu lebenszyklischen Änderungen wie den Insekten-Metamorphosen. Aber diese Strukturveränderungen sind Beiträge zur Aufrechterhaltung der Organisiertheit des Gebildes „Lebewesen“.

Was die Gaia-Hypothese geltend macht, ist, daß es Fließgleichgewichte auf globaler Ebene zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt gibt. Was folgt daraus aber für die Behauptung, daß die Erde insgesamt bzw. die Gesamtheit ihrer Lebewesen ein einziges Lebewesen sei? Nachdem vor über 3 Milliarden Jahren Organismen mit aerober Photosynthese entstanden waren, begann sich die Atmosphäre mit Sauerstoff anzureichern. Über zwei Milliarden Jahre  hindurch herrschte diesbezüglich kein Gleichgewicht. Der Gehalt an Sauerstoff – Gift für die vorher die Erde bevölkernden, anaeroben Lebewesen – nahm immer mehr zu. Die Biomasse der aeroben Lebewesen nahm unter den für sie immer günstiger werdenden Umweltbedingungen auch zu, und zwar bis ihr Sauerstoffverbrauch so groß geworden war, daß (unter Mitwirkung anderer sauerstoffverbrauchender Prozesse) die Zunahme des Sauerstoffgehalts der Atmosphäre schließlich aufhörte und man verglichen mit der vorherigen Epoche zur Not – immerhin waren die Schwankungen erheblich – nun von einem Gleichgewicht sprechen kann. Das war erst vor ca. 300-400 Millionen Jahren der Fall.

Wenn sich daraus ableiten lassen sollte, daß die Erde (oder die Biosphäre) ein einziges Über-Lebewesen ist, dann müßte gezeigt werden, daß die Lebewesen in ihrer Gesamtheit die zu Fließgleichgewichten führenden Prozesse regulieren, und zwar, so daß sie funktional für die Erhaltung der Lebewesen in ihrer Gesamtheit (was immer das auch heißen mag) sind. Die Lebewesen auf der Erde müßten sich in einer Weise organisieren, daß das ermöglicht wird. Und in der Tat, „Selbstorganisation“ ist neben Fließgleichgewicht der zweite für die Gaia-Hypothese zentrale Begriff. Darum nun zur Frage: Was bedeutet Selbstorganisation? Tatsächlich wird dieser Begriff auf zwei grundverschiedene Weisen gebraucht (s. z. B. Haken1984, Sendova-Franks & Franks 1999):[7]

(1) Eine Einheit organisiert sich, indem sie – durch eine Art der Koordination, die diese Einheit als ein sich entwickelndes Ganzes voraussetzt, oft vermittelt durch Organe mit Zentralfunktionen – ihre (von der Einheit selbst erzeugten) Teile im Hinblick auf deren Funktion für das Ganze anordnet.

(2) Individuelle Einheiten ordnen sich gemäß ihrer von den anderen individuellen Einheitenunabhängigen Eigenschaften an und werden so zu Untereinheiten einer dadurch erst entstehendenübergeordneten Einheit (siehe z. B. Rensing & Deutsch 1990, Seeley 2002).

Der Begriff Selbstorganisation hat also zwei völlig verschiedene Bedeutungen, eine holistische (1) und eine individualistische (2). Beide Organisationsweisen spielen bei der Entwicklung des Organismus eine Rolle, (2) aber auch in der nicht-lebenden Natur und in den Gesellschaften von Organismen, und nur (1) ist charakteristisch für Lebewesen.

Viele Musterbildungen in der unbelebten Natur erfolgen durch „Selbstordnung“ oder „Selbstmontage“ (Rensing & Deutsch 1990). Das „Selbst“ steht hier nicht für das ganze Gebilde, das in dem Prozeß zustande kommt. Nicht dieses Gebilde montiert sich selbst, es ist, als ein Ganzes, in keiner Weise tätig (wie metaphorisch auch immer man "tätig" verstehen mag), und man braucht kein Wissen über dieses Ganze, um den Vorgang seiner Entstehung zu erklären. Sondern das "Selbst" steht für jedes der einzelnen „Dinge“, die am Prozeß beteiligt sind. Sie ordnen sich selbst an. Es fügen sich hier einzelne zunächst voneinander unabhängige Dinge zusammen. Mit welchen anderen Dingen sie verbunden sind, ändert sich, sofern sie nicht sofort mit den passenden verbunden sind, immer wieder, bis sie schließlich so angeordnet sind, daß sich ein stabiler Zustand ergibt. (Die einzelnen Dinge werden damit Teile eines Systems.) Das ist der Fall, wenn sich Moleküle zu größeren Molekülen verbinden oder wenn Kristalle entstehen. Die Untereinheiten fügen sich nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip oder dem Prinzip von Puzzleteilen aneinander. Viele komplizierte Muster in der abiotischen Natur – aber auch  an Organismen –, die uns so vorkommen, als könnten sie nur planmäßig entstanden sein, erklären sich auf eine solche Weise. Bei Organismen gilt das beispielsweise für die Bildung regelmäßig angeordneter radiärer Strahlen. Es handelt sich, zumindest isoliert von dem biologischen Gegenstand betrachtet, in dem sie ablaufen, um rein physikalische Vorgänge, auch wenn man geneigt sein könnte, auf sie Begriffe wie Konkurrenz und Kooperation anzuwenden (s. ebd.). Solche Muster müssen keinerlei biologische Funktion haben, und selbst wenn sie eine haben, so entstehen sie doch nicht ihretwegen. Erweisen sie sich im Nachhinein als funktional für den Organismus, werden sie selektiv gefördert. Sie können z. B., wie die Wellblechmuster der Muschelschalen, der mechanischen Stabilisierung dienen, oder sie können das Wiedererkennen ermöglichen (ebd.).

Ordnungsprozesse im Sinne individualistischer Selbstorganisation treten auch als echte biologische Phänomene auf. Das soll heißen, daß die einzelnen Dinge, die sich anordnen, individuelle Organismensind. Die Selbstmontage ist nicht funktional für die übergeordnete Einheit, die bei diesem Kombinationsprozeß entsteht, denn diese Einheit ist kein Organismus, der bereits vorher besteht und die Montage veranlaßt und lenkt. Die Verbindungen, die die individuellen Organismen in diesem Prozeß mit Dingen in ihrer Umwelt eingehen, etwa mit den anderen Organismen, sind vielmehr funktional nur für die individuellen Organismen selbst.[8] Eine Ordnung entsteht dabei als Folge lokaler Interaktionen der an der Montage beteiligten Einzelnen. Dazu braucht es also keine Zentrale und kein vorgängiges und übergeordnetes Ganzes.

Bei der Entwicklung des einzelnen Organismus, d. h. bei der Ontogenese haben wir es dagegen im Prinzip aber mit einer Selbstorganisation vom Typ (1), dem holistischen, zu tun: Ein Organismus differenziert sich, indem er seine Komponenten verändert und neue Komponenten aus sich hervorbringt. Die Anordnung hängt durchaus auch hier wie bei der einfachen Selbstmontage von den Oberflächen-Eigenschaften der Untereinheiten in ihrem Verhältnis zueinander ab; was nicht zusammenpaßt, kann sich weder von selbst zu einer Einheit zusammenfügen noch durch eine übergeordnete Instanz zusammengefügt werden. (Mit Oberflächen-Eigenschaften ist alles gemeint, womit die Untereinheiten auf ihre Nachbarschaft einwirken und wodurch sie deren Wirkungen empfangen können.)

Während aber im Falle der individualistischen Selbstmontage diese Oberflächen-Eigenschaften bei jeder Untereinheit schon unabhängig von den anderen Untereinheiten vorhanden waren (eine in einen mitteleuropäischen Wald einwandernde und sich dann diesem Wald als ein Teil desselben einfügende Pflanze aus Innerasien hat die Eigenschaften, die ihr das ermöglichen, unabhängig von diesem Wald erhalten, sie ist ihm zuvor ja nicht begegnet), ist es im Falle des holistischen Typs (1), der Selbstdifferenzierung eines Ganzen, komplizierter. Man nehme als typischen Fall die Entwicklung eines Mehrzellers.

Die Oberflächen-Eigenschaften jeder Komponente existieren nicht vorgängig als Eigenschaften, die jede Untereinheit unabhängig von den anderen mitbringt. Vielmehr sind sie und damit die spätere Ausprägung und Anordnung der Untereinheiten in dem ursprünglich undifferenzierten Gebilde, d. h. dem Ganzen (der Ursprungszelle), aus dem die Teile des differenzierten späteren Gebildes ja hervorgehen, angelegt. Für die Realisierung der Anlagen sind im Falle des sich differenzierenden Organismus nicht in erster Linie Bedingungen, die die jeweilige Komponente (Zelle) selbst mitbringt, sondern die Umweltbedingungen der Zelle ausschlaggebend (Nachbarschaftsbeziehungen, verbunden oft mit „Botschaften“ etwa chemischer Art von einer Zentrale aus). Das heißt, es sind Oberflächen-Eigenschaften anderer Komponenten des Organismus entscheidend. Wenn ursprünglich die Eizelle und auch oft die Zellen nach den ersten Teilungen totipotent sind, dann besteht die Differenzierung des gesamten Organismus in der Einschränkung dieser Totipotenz. Dies bedeutet, daß sie in der Inaktivierung von Teilen des Genoms der Zelle und der Aktivierung anderer besteht. Eben das wird vor allem bewirkt durch den Einfluß anderer, der benachbarten Zellen. Wie diese wirken, beruht jedoch nicht auf Eigenschaften, die den benachbarten Zellen als voneinander unabhängigen „Bausteinen“ schon zukommen. Sondern diese Eigenschaften werden erst realisiert im Prozeß der Individualentwicklung auf eben die Weise, wie sie nun durch die benachbarten Zellen in der fraglichen einzelnen Zelle realisiert werden: Immer wirkt eine bestimmte Konstellation der Umgebung auf die jeweilige Zelle ein, und diese Konstellation war bereits vorher als Anlage in dem Gesamtorganismus (biologisch zu verorten in der DNS) vorhanden, als dieser noch nicht aus mehreren Zellen bestand.

Man sieht, welch ein grundlegender Unterschied zwischen diesen zwei Begriffen von Selbstorganisation besteht. Um zu zeigen, daß die Erde ein Lebewesen ist, müßten die Befürworter der Gaia-Hypothese nachweisen, daß hier eine holistische Selbstorganisation stattfindet und daß die Gleichgewichte organische sind. Die globalen Umweltbedingungen müßten von den zu einem Organismus höherer Ordnung vereinten einzelnen Lebewesen der Erde (so wie Zellen zu einem Mehrzeller vereint sind) in der Weise hergestellt werden, wie ein einzelner Organismus etwas in seiner Umwelt so verändert, daß es für ihn günstig ist, und dies nicht nur zufällig, sondern z. B. so, wie ein Biber einen Stausee und darin Bauten anlegt. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß das gelingen könnte.

Der Nachweis von Fließgleichgewichten und von negativen Rückkoppelungen allein ist für die Frage, ob die Gaia-Hypothese haltbar ist, ebenso irrelevant wie es ein Nachweis wäre, daß die Teile der Biosphäre sich im Zuge einer Selbstorganisation zusammengefügt haben, die vom Typ der individualistischen, der „Selbstmontage“ ist, also etwa in der Art, wie ein Wald entsteht: Manche Bäume fügen sich sozusagen zusammen, etwa die stark schattende Buche und der sehr wenig lichtbedürftige Buxbaum, während lichtbedürftige niedrige Bäume unter den Buchen nicht wachsen können.

Es gibt nicht den mindesten Grund für die Behauptung, „das Leben“ habe den Sauerstoffverbrauch deshalb in Gang gesetzt und gesteigert, damit schließlich nach zwei Milliarden Jahren ein Fließgleichgewicht in der Atmosphäre erreicht werde, weil das für „das Leben“ günstig ist. „Das Leben“ – d. h. der Überorganismus Gaia – veranlaßt nicht ein einzelnes Lebewesen dazu, genau so viel an Sauerstoff freizusetzen oder zu veratmen, wie es freisetzt oder veratmet, damit der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre etwa in seiner jetzigen Höhe bleibt und nicht zwischen 1% und 70 % hin und her schwankt, und dies schon gar nicht, weil das für „das Leben“ günstig ist. Oder nicht-teleologisch formuliert: Man muß nicht wissen, was für „das Leben“ günstig ist, um zu erklären, warum ein einzelnes Lebewesen eine bestimmte Menge Sauerstoff erzeugt oder veratmet. Das erklärt sich ganz anders. Die einzelne Pore in der Haut eines Lebewesens aber wird von diesem als einem Ganzen dazu veranlaßt, sich genau so weit zu öffnen oder zu schließen, daß die Temperatur oder der Wasserzustand im Organismus im Gleichgewicht, d. h. hier: innerhalb bestimmter, für das Lebewesen Grenzen bleibt, zudem für das Lebewesen günstiger Grenzen.

 

Es ist nicht damit getan, wenn sich Lovelock gegen eine teleologische Deutung seiner Hypothese wendet, solange er dabei bleibt, daß die Erde ein Lebewesen oder etwas von der Art eines Lebewesens ist. Auch ein Biologe, der über Organismen spricht und sagt, hier setze dieser etwas zu seiner Selbsterhaltung ein, meint dies ja typischer- bzw. legitimerweise nicht im Sinne einer objektiven Teleologie, sondern hat eine „Steuerung“ durch ein genetisches Programm im Sinn. Diese hält er entweder für rein kausal erklärbar, oder er meint, mit teleologischen Begriffen zwar nichts erklären zu können, sie aber doch zu heuristischen Zwecken oder zur Verständlichmachung nötig zu haben. Indem die Gaia-Hypothese behauptet, daß die globalen Fließgleichgewichte sich im Dienste von Selbstorganisations- oder Selbstreproduktionsprozessen ereignen, behauptet sie entwederimplizit die Wirksamkeit sei es eines genetischen Programms, sei es von etwas Entsprechendem, was immer das sein mag. Oder sie versteht unter dem Begriff Selbstorganisation (und Selbstreproduktion) etwas anderes als das, was man darunter versteht, wenn man Organismen mit seiner Hilfe charakterisieren möchte (also holistische Selbstorganisation). Ich vermute, daß letzteres der Fall ist, die Anhänger der Gaia-Hypothese das aber nicht bemerken und eben deshalb auf den Gedanken kommen, die Erde ein Lebewesen zu nennen und zu meinen, ein genetisches Programm sei dafür nicht nötig.

Schlußbemerkung: Margulis hat sich offenbar zu sehr beeindrucken lassen von der Erkenntnis, daß aus unabhängig voneinander lebenden Organismen im wahrsten Sinne des Wortes ein einziger individueller Organismus werden kann, und zwar auf dem Weg über ihre Symbiose, d. h. über mutualistische Interaktionen: Zusammenwirken mit beiderseitigem Vorteil, Interaktionen vom (+/+)-Typ. Abgesehen davon, daß solche Interaktionen nur ein Teil aller ökologischen Interaktionen sind (es gibt nicht weniger häufig prädatorische und kompetitive, also (+/-)-Interaktionen und (-/-)-Interaktionen): Systeme mit mutualistischen Interaktionen sind keine Organismen. Die kooperierenden Einzelorganismen sind selbständig und sie kooperieren, in teleologischer Formulierung, ganz egoistisch, um für sich möglichst viel herauszuholen, also wie Geschäftspartner, nicht im Auftrag einer ihnen vor- und übergeordneten Instanz, wie die Abteilungen eines Amtes.

Es sind spezielle Vorgänge nötig, damit aus den Symbionten ganz verschiedener Herkunft ein einziger Organismus (eine Zelle) entsteht, in welchem die vorher selbständigen Organismen nur noch Organellen sind. Der entscheidende Vorgang ist die Aufnahme von Teilen der DNS-Ketten aus den jeweils anderen Organismen in das eigene Genom. Damit wird ununterscheidbar, ob ein bestimmter vom Genom ausgehender Prozeß von dem einen oder dem anderen der vereinigten Organismen ausgeht. Die „Anlagen“ dafür, daß sich die Entwicklung eines mehrzelligen Organismus aus einer Ursprungszelle so vollzieht, daß alle Komponenten der Erhaltung des ganzen Organismus dienlich sind, befinden sich nun auf der Ebene des neuen Ganzen der Ursprungszelle: im nun gemeinsamen Genom. So wurde aus individualistischer Selbstorganisation holistische. Entsprechende Vorgänge gibt es auf der Ebene der Biosphäre als ganzer nicht. Sie hat kein genetisches Programm.

Literatur:

Bertalanffy, L. v. 1929: Vorschlag zweier sehr allgemeiner biologischer Gesetze. Biol. Zbl. 49: 83–111.

Eisel, U. 2004: Konkreter Mensch im konkreten Raum. Individuelle Eigenart als Prinzip objektiver Geltung. Arbeitsberichte Geographisches Institut, Humboldt-Universität zu Berlin Heft 100, 197-210 (Internetversion hier)

Haken, H. 1984: Erfolgsgeheimnisse der Natur. Synergetik: Die Lehre vom Zusammenwirken. Berlin.

Kirchhoff, Thomas 2007: Systemauffassungen und biologische Theorien. Zur Herkunft von Individualitätskonzeptionen und ihrer Bedeutung für die Theorie ökologischer Einheiten, Beiträge zu Kulturgeschichte der Natur, Band 16 (Dissertation TU München). (Internetversion hier). 

Lovelock, J. 1992: GAIA - Die Erde ist ein Lebewesen. Bern, München, Wien.

Margulis, L. 1998: Symbiotic Planet: A New Look at Evolution. New York.

Rensing, L. & A. Deutsch 1990: Ordnungsprinzipien periodischer Strukturen. Biologie in unserer Zeit 20: 314–321.

Seeley, T. D. 2002: When is self-organization used in biological systems? The Biological Bulletin 202: 314–318.

Sendova-Franks, A. B. & N. R. Franks 1999: Self-assembly, self-organization and division of labour. Philosophical Transactions of the Royal Society of London Series B Biological Sciences 354: 1395–1405.

Trepl, Ludwig  2005: Allgemeine Ökologie, Band 1 – Organismus und Umwelt, Frankfurt am Main: Peter Lang. 

Voigt, A. 2001: Ludwig von Bertalanffy: Die Verwissenschaftlichung des Holismus in der Systemtheorie. In: Verhandlungen zur Geschichte und Theorie der Biologie, Band 7. VWB, Berlin: 33-47. 

Voigt, A. 2009: Theorien synökologischer Einheiten – Ein Beitrag zur Erklärung der Uneindeutigkeit des Ökosystembegriffs, Stuttgart: Franz Steiner Verlag (= Sozialgeographische Bibliothek, Bd. 12) (Dissertation Technische Universität München, 2007). (Internetversion hier).

Weil, A. 1999: Über den Begriff des Gleichgewichts in der Ökologie – Ein Typisierungsvorschlag. Landschaftsentwicklung und Umweltforschung 112.

 

Blogartikel und andere Beiträge im Internet mit Bezug zum Thema: 1234567891011121314151617

Verweise:

[1] Typisch der auf Theorien diese Art bezogene Satz des Evolutionsbiologiepapstes Ernst Mayr: Es gibt keine gesunde Herde von Schafen. Es gibt nur eine Herde von gesunden Schafen.

[2] Dabei sollte man bedenken, daß es sich bei der Endosymbiosetheorie nicht um eine Behauptung von der Art eines allgemeinen Naturgesetzes handelt mit all den Problemen der Fallibilität, wie man sie etwa aus der Arbeiten der Popper-Schule kennt, sondern um die Behauptung eines singulären, historischen Sachverhalts, wie im Falle der Theorie eines Detektivs darüber, wer der Täter sei.

[3] Siehe z. B. Kirchhoff 2007, Voigt 2009, zur Bedeutung der christlichen Lehre für dieser Welterklärungsmuster siehe z. B. Eisel 2004.

[4] Man beachte, daß „erzeugen“ hier metaphorisch verwendet wird. Einen Baum kann man möglicherweise als einen etwas erzeugenden Agenten im wörtlichen Sinne betrachten, nicht aber einen Bestand von Bäumen. Das wäre so dämlich wie das modische Geschwätz von der Schwarmintelligenz.

[5] Die folgende Seite ist zum großen Teil Trepl 2005, S. 470 f., entnommen.

[6] Man denke an das einschlägige Lhotka-Volterra-Modell.

[7] Die folgenden eineinhalb Seiten sind weitgehend Trepl 2005, S. 85 ff., entnommen.

[8] Dagegen hat bei der Anordnung von Molekülen im Kristall die Frage, ob diese Anordnung eine Funktion für die Moleküle habe, keinen Sinn. „Funktional“ setzt Organismen voraus.

 

§  Bambi-Syndrom

§  Animismus

 

§  Ökologismus

Stand: 2016

1. Gastbeitrag aus: Psiram
2. Gastbeitrag von:
Ludwig Trepl

Kommentare: 5
  • #5

    ghovjnjv (Donnerstag, 08 September 2022 12:19)

    1

  • #4

    ghovjnjv (Donnerstag, 08 September 2022 09:13)

    1

  • #3

    Philoclopedia (Freitag, 04 Dezember 2020 00:29)

    https://aeon.co/essays/the-gaia-hypothesis-reimagined-by-one-of-its-key-sceptics

  • #2

    WissensWert (Donnerstag, 25 August 2016 18:35)

    https://de.wikipedia.org/wiki/Gaia-Hypothese

  • #1

    Seelenlachen (Freitag, 11 März 2016 01:59)

    Humor: Die Gaia-Hypothese gibt es in einer extrem verkürzten und volkstümlichen Variante auch als Witz: Treffen sich zwei Planeten. Sagt der eine zum anderen: “Du, ich habe Homo sapiens.” Sagt der zweite zum ersten: “Ach, das macht nichts. Das hatte ich auch. Das geht vorbei.


Impressum | Datenschutz | Cookie-Richtlinie | Sitemap
Diese Website darf gerne zitiert werden, für die Weiterverwendung ganzer Texte bitte ich jedoch um kurze Rücksprache.